Anatomie eines zerrissenen Landes
Ulrich Ladurner erklärt, warum im heutigen Italien Zorn, Angst und Bitternis regieren.
Ein Ort, zwei Ereignisse. Am 11. Juni 1984 verneigt sich Italien vor Enrico Berlinguer. Von überall im Land strömen Menschen auf die Piazza San Giovanni in Laterano in Rom, um sich vom charismatischen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Italiens zu verabschieden, der mitten im Wahlkampf plötzlich verstorben ist. Eine Million Menschen erweist Berlinguer die letzte Ehre.
29 Jahre später, am 23. Februar 2019 hält der Komiker Beppe Grillo vor Zehntausenden Anhängern vor San Giovanni seine Wahl kampfschluss kundgebung. Der Chef der Fünf-Sterne-Bewegung hält Politiker unterschiedslos für Gauner und Kriminelle. Er will das politische System Italiens zum Einsturz bringen. Unter dem Jubel seiner Anhänger brüllt er. „Es ist aus mit euch Politikern ... Ihr habt nicht verstanden, was auf euch zukommt. Ergebt euch, werdet unsichtbar, ihr seid umzingelt!“
Hier der tote Berlinguer, in dessen Gestalt die Menschen nicht zuletzt der Politik als Hoffnung gebende Konstante Respekt zollten. Dort der tobende Volkstribun, der mit seinen Hasstiraden auf die Politik seine Partei noch zur stärksten Kraft im Land machen wird. „Wie konnte es so weit kommen?“, fragt Ulrich Ladurner in seinem Buch „Der Fall Italien“. Was habe dazu geführt, dass nicht mehr Politiker erfolgreich seien, die Gefühle kanalisieren und in eine positive Kraft verwandeln, sondern Politiker, die die Aufgewühlten weiter aufpeitschen?
Um Antworten zu erhalten, ist der gebürtige Südtiroler und Brüssel-Korrespondent der Wochenzeitung „Die Zeit“durch Italien gereist. Ladurner hat das Val Polcevera bei Genua besucht, wo am 14. August 2018 beim Einsturz der MorandiBrücke 41 Menschen starben. Er ist Lega-Chef Matteo Salvini am Gardasee begegnet, war bei den afrikanischen P ar adeispflüc kern in Apulien und in Macerata in den Marken, wo am 3. Februar des Vorjahres ein ehemaliger Lega-Nord-Kandidat aus einem fahrenden Auto auf Afrikaner feuerte. Das Resultat ist ein luzides und so dichtes wie überzeugendes Porträt eines einsamen Landes, in dem Angst, Bitternis und Zorn fast alle Zukunftshoffnung verdrängt haben.