Welterkundung nach Kriegsende
Bei Kriegsende 1945 war ich noch keine 13 Jahre alt. Unser Haus stand noch, aber die Welt, wie ich sie gekannt hatte, lag in Trümmern. Doch Bücher gab es bald wieder.
Sieben Jahre Kindheit im „Tausendjährigen Reich“. Größe wurde uns von klein an vorgegaukelt. Wie armselig klein diese Welt in Wahrheit war, erfuhr man erst allmählich. Auch durch eine Literatur, die uns bisher vorenthalten worden war.
Ich besuchte die Realschule in Linz und war Bahnschüler. Eines Tages fuhr wegen der vielen Bombenangriffe kein Zug mehr. Ich wanderte vom schwer beschädigten Hauptbahnhof den Gleisen entlang die acht Kilometer nach Hause.
Auf „Oberdonau“wurden im Zweiten Weltkrieg 25.000 Tonnen Bomben abgeworfen. Ein Hauptziel war meine Geburtsstadt Linz. Allein zehn Angriffe gab es im Dezember 1944. Auch im Jahr 1945 ging es noch weiter und eine der „Fliegenden Festungen“der Alliierten warf einmal ihre Last etwas zu früh ab und ein paar Bomben detonierten in der Nähe unseres Hauses.
Wir kauerten im hintersten Eck des Kellers in unserem Einfamilienhaus, dort, wo die Erdäpfel lagerten. Wir, das waren meine Mutter, meine vierjährige Schwester, eine „Fremdarbeiterin“und ich. Mein Vater war seit 1938 „eingerückt“. Als eine Bombe ganz in der Nähe einschlug und das Haus in seinen Grundfesten bebte, begannen wir laut zu beten. Nie mehr hatte ich später ein solches Gefühl panischer Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins.
Die „Fremdarbeiterin“war Ukrainerin und hieß Lydia. Sie hatte, als die Sirenen losheulten, bei uns Zuflucht gesucht.
Fast jede zweite Arbeitskraft in „Oberdonau“war damals „volksfremd“, wie es im NS-Propagandajargon hieß: Zwangsdeportierte aus besetzten Gebieten und Kriegsgefangene.
Mein letztes Zeugnis von der „Staatlichen Oberschule für Jungen“im NS-Regime ist datiert mit 21. Dezember 1944. Am
18. Dezember hatte ich meinen
12. Geburtstag gefeiert. Das nächste „staatsgültige“Halbjahreszeugnis von der „Staatsrealschule Linz“trägt das Datum 15. Februar 1946.
Dazwischen lagen ein paar Monate „Ferien“im Krieg und in der ersten Nachkriegszeit, ein verlorenes Schuljahr, der Einmarsch der Amerikaner und Russen in Oberösterreich sowie die Rückverwandlung der Ostmark in ein neues Österreich.
Ich erlebte Fliegeralarm bei Nacht und bei Tag, machte einen Tieffliegerangriff mit, sah meine ersten Toten und wurde zum Bau einer Panzersperre eingeteilt, der die Tanks der Amerikaner dann bequem ausweichen konnten.
Meine erste Auslandsreise machte ich 1952, sieben Jahre nach Kriegsende, mit fast 20 Jahren. Es war die Maturareise nach Rom.
Die Welt hatte ich zunächst aus „Rolf Torrings Abenteuer“kennengelernt. „Gelbe Haie“, „Im Todessumpf “oder „Auf der Teufelsinsel“waren die Titel dieser Hefte. Und die Kolportage-Abenteuer ereigneten sich in Indien, Afrika, Südostasien oder Südamerika. Die reale Welt waren die „Fronten“aus den Wehrmachtsberichten: zum Beispiel die Eismeerfront mit Kirkenes im nördlichsten Norwegen, die Front in Afrika mit El Alamein in Ägypten oder die Ostfront mit Stalingrad.
Nach der „Schundheftl“- Phase kam Karl May an die Reihe. Den ersten Band schenkte mir eine meiner Tanten 1943: „Der Ölprinz“. Karl May war dann einige Zeit mein bevorzugter Autor. Der Erfinder des Old Shatterhand und des Kara ben Nemsi hatte, wie ich später erfuhr, einen breit gefächerten FanKreis: von Erwin Pröll bis Josef Winkler, von Hermann Hesse