Mein absoluter Wille geschehe
Das alte, laute Ich verdrängt das solidarische Ich der Krise. Das verheißt nichts Gutes, sichtbar an der schrillen Impfdebatte.
Das Ich der alten Normalität ist wieder zurück. Das Sandkasten-Ich der Lockerungszeit: Wieso darf der und ich nicht? Das AnspruchsIch: Das Ich-hab-noch-nichtsgekriegt-Ich. Das Ich-pfeif-aufdie-Regeln-Ich, bekannt als das Wiener-Donaukanal-Ich.
Das nationale Ich der asymmetrischen Grenzöffnung und des freundlichen Urlaubslandes: das Ihr-kommt-unbedingtzu-uns-und-wir-bleiben-unbedingt-da-Ich. Und als Krönung: das wiedererstarkte Ich der Impfgegner. Das Ich-sichernicht-Ich. Es steht für die Stimmungslage und das Auseinanderbrechen des solidarischen Kollektivs in der Krise.
Geschlossen handeln jetzt nur noch die Teilmengen. Es gibt keine hermetischere Glaubensgemeinschaft als die der Impfgegner. Schrill und irrational zieht man gegen etwas zu Felde, das es gar nicht gibt. Es existiert nur als Projektion und Sehnsucht. Noch weiß niemand, wann es einen sicheren, ausreichend getesteten Impfstoff geben wird und ob die Welt das Serum solidarisch teilen wird. Fest steht, dass nur ein Impfstoff die Pandemie stoppen
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und die Hoffnung einlösen kann, das unbeschwerte Leben mit den alten Freiheiten rückerstattet zu bekommen. Es ist absurd, das Heilmittel zur Bedrohung zu verklären und die Krankheit kleinzureden, als wären die vergangenen Wochen ein böser Traum gewesen. Das Impfen ist eine Erfolgsstory, eine der spektakulärsten der Medizin.
N atürlich ist es wünschenswert, dass jeder die Freiheit hat, selbst zu entscheiden, ob man sich schützt oder nicht. Der freie Wille ist das smartere Gut als die Pflicht. Das schließt den freien Willen zur Selbstschädigung mit ein. Jeder ist Souverän der eigenen Lebensführung. Dieses Prinzip stößt dort an Grenzen, wo die Freiheit des Einzelnen Interessen anderer beschneidet. Die Freiheit, sich nicht anzugurten, kollidiert mit dem Recht auf Unversehrtheit der Insassen. Deshalb gibt es die Anschnallpflicht. Deshalb gibt es ein Rauchverbot im Gasthaus oder im Flugzeug. Das Ich setzt sich in Beziehung. Es ordnet sich unter. Keinem Machthaber, sondern dem Gemeinwohl. Es ist ein SchlagerMythos, dass die Freiheit über den Wolken grenzenlos sei. icht anders verhält es sich beim Impfen. Es ist ein Gemeinschaftsschutz. Wer sich verweigert, handelt nicht nur achtlos gegenüber sich selbst, sondern auch unsolidarisch gegenüber all jenen, die nicht geimpft werden können. Bei Masern sind es die Säuglinge, beim Coronavirus die Krebspatienten. Das legt tendenziell eine Impfpflicht nahe, bedingt sie aber noch nicht zwingend. Es würde reichen, wenn die Vernunft durch ideologiefreie Aufklärung über das zweite Drittel hinaus Herdenstärke erlangte. Sich ohne staatliche Anleitung seines Verstandes zu bedienen, das wäre das Ideal, frei nach Kant.
Dazu bräuchte man das vernunftbetonte, rücksichtsvolle Ich der Krise. Und nicht das wiedererstarkte Ich der alten Normalität, das in Mode ist.
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