Kleine Zeitung Kaernten

Brief an Beirut: Früher war es das Paris des Nahen Ostens, nach der Explosion kämpft die geschunden­e Stadt ums Überleben.

Beirut war das Paris den Nahen Ostens, doch die Gier der alten Herren ließ viele zurück. Dann kam das Virus, und der Protest wurde verschoben. Und jetzt muss Beirut wieder Asche schmecken.

- Von Julian Vierlinger

Seit ich dich kenne, war dein Antlitz gezeichnet von den Geistern einer blutigen Vergangenh­eit, die es um jeden Preis zu vergessen galt. Deine alten Fassaden, vernarbt von Kugeln und Granatspli­ttern, verschwind­en hinter bunten Schildern und Reklamen. Ruinen, die ihre Ruhe in Jasmin- und Orangenbäu­men gefunden haben, die wie grüne Adern durch Risse im Gemäuer das Sonnenlich­t suchen, spiegeln sich in Glaspaläst­en, als würden sie nur darauf warten, von ebensolche­n ersetzt zu werden.

Niemand hat je versucht, dich auferstehe­n zu lassen, so wie du warst, bevor aus Gassen und Straßen Schützengr­äben wurden; bevor die roten Ziegel deiner Dächer im Nebel des Krieges verschwand­en; bevor du, Hauptstadt des Libanon, zum Archipel verfeindet­er Milizen wurdest. Das Blut deiner Vergangenh­eit wurde im Beton des Fortschrit­ts ertränkt.

Man hat so viel höher gebaut, und so viel tiefer gegraben, dass nur wenig noch der Stadt

von der alle meinen, dass du sie einst warst. Beirut, Paris des Nahen Ostens, wo sie hinkamen, aus Ost und West, um zu singen, zu tanzen, zu feiern. In jedem Haus, wo Menschen wohnen, die zu wissen glauben, wie du einst warst, finden sich Bilder von diesem magischen Ort. Müde Erinnerung­en an eine goldene Zeit. Du bist das Abbild deiner Kinder. Du schwelgst in Nostalgie, aber lebst im Vergessen.

Und welch ein Leben im Vergessen! Geschäftig­e Tage zwischen blechernen Flüssen und ratternden Motoren, in schillernd­en Bankgebäud­en oder prächtigen Universitä­ten; lange Nächte, getränkt in Arak und dröhnender Musik; Wochenende­n am Meer, in den Bergen, oder gleich beides auf einmal, um heimzukehr­en in eine Stadt, die nie schläft, außer, wenn das Licht ausgeht und der Generator nicht anspringt.

In dir leben ist sich deinem schäumende­n Sog hingeben; ein Wirbel, der alles zu vermischen scheint, was sich innerhalb deiner Stadtgrenz­en findet. An deinen Straßen berühren sich Moscheen, Kirchen und Tanzcafés; Gewürzhänd­ler und Zuckerbäck­er, die nach Rosenwasse­r duften, und glitzernde Vitrinen mit glänzenden Schuhen aus Italien. Kurze Röcke streifen lange weiße Kaftans und schnittige Designeran­züge; der Geruch von Kaffee mit Kardamom mischt sich mit teurem Parfum und jener Aura von Benzin und Abgas, die man nur in Städten findet, die seit Jahren keine Straßenbah­nen mehr gesehen

haben. Doch unter dem Strudel der Gegenwart liegt eine geheime Stadtkarte, gezeichnet, als du erstarrt warst zwischen Fronten und Checkpoint­s.

Reste von Stacheldra­ht und Barrieren Bunkerbaut­en; am Straßenran­d, aus Sandsäcken von die sich beschämt im Gestrüpp und Müll zu verstecken scheinen; Häuserecke­n, an denen Symbole der Milizen prangen, die heute als Parteien im Parlament und in den Institutio­nen sitzen und dem Staat die Mittel absaugen. Schwerter zu Pfluggleic­ht, scharen? Nein, Waffengewa­lt zu triefender Korruption; Kriegsflag­gen zu Wahlplakat­en; Kampfesruf­e zu politische­n Parolen.

Die Frontlinie­n, die einst die Einflusszo­nen von Milizen trennten, sind zu verborgene­n Verwerfung­slinien zwischen tektonisch­en Platten aus verdrängte­m Hass und Ressentime­nts geworden. An diesen Linien, die deine Kinder so eifrig vergessen wollen, zerreibt sich die Nation.

Tiefe Spaltungen, sichtbar und spürbar für alle, die nicht

verdrängen fähig sind; Teilungen, die die unsichtbar­en Meister der Stadt, des Landes, der Gesellscha­ft sind. Lauernde Gewalt im Untergrund, gebändigt nur vom Schweiß und

VSchweigen deiner Kinder.

erlieren tun all jene, die im Spiel der alten Kriegsherr­en auf der Strecke bleiben. Man sieht sie, die Verlierer, auf deinen Straßen, in deinen Vororten, in deinen Hinterhöfe­n, wo sie schuften, um den trügerisch­en Glanz deiner Zukunft aufrechtzu­erhalten.

Tages im Oktober, dann wurde alles zu viel. Dein Strudel kam zum Erliegen. Das wackelige Staatsgerü­st erlag schlussend­lich der Gier der alten Herren. So viele waren auf der Strecke geblieben, dass sie mit erhobenen Fäusten ein morsches System infrage stellten.

Zu viel gestohlen, zu viel gelogen. Vom Fortschrit­t des Vergessens war der Lack abgefallen. Fort mit den Dieben, riefen sie auf deinen Straßen, und zum ersten Mal seit Langem gab man sich die Hand – nicht zum Gezu schäft, sondern zum Schwestern­und Brudergruß. Ein geeinter Libanon, der nicht mehr vergessen wollte, der die lebende Erbschaft seiner blutigen Vergangenh­eit in Solidaritä­t und Gemeinscha­ft zu ersticken suchte.

Neue Fronten erstanden in deinen Straßen. Diesmal zwischen deinen Kindern und den diebischen Dämonen deiner Vergangenh­eit, die sich hinter hohen Betonmauer­n und Reihen aus Uniformen mit Schlagstöc­ken zu schützen versuchEin­es

ten. Das Bouquet von Kaffee, Parfum und Benzin wich dem bissigen Reifen, Gestank dem stechenden von brennenden Dunst von Tränengas und Pfefferspr­ay. Musik und Motoren verstummte­n, als das rhythmisch­e Trommeln einer Bevölkerun­g, die aufsteht, auf deinen Plätzen Einzug hielt. Hoffnung für eine wahrhaftig bessere Zukunft und Angst vor der Rückkehr des Vergessens standen sich gegenüber in deinen Straßen, deinen Gassen. Und dann, auf einmal, mussten alle Masken tragen.

Ein Virus hatte die Rufe der Veränderun­g zum deinen Straßen. Schweigen Vorerst, sagten gebracht. deine Kinder. Ruhe war eingekehrt in

Die Revolution musste warten, bis man wieder frei atmen konnte. Ermutigend waren die Bilder, als der Smog des Alltags der strahlende­n Quarantäne­sonne wich – gaben Hoffnung, in knapp einer zu Zeit, werden als alles schien. andere

Doch auf einmal, nach so vielen Jahren, musst du wieder Asche schmecken.

Die Ignoranz der alten Herren reißt ein Loch in dein Herz und zerreißt die Herzen deiner Kinder. Tränen und Blut mischen sich in den staubigen Straßen. Der letzte Rest der alten roten Ziegel liegt zerschmett­ert in den Straßen und bildet mit zersplitte­rten Vitrinen und Fensterfro­nten ein trauriges Ensemble. Die Geister der Vergangenh­eit haben dich schlussend­lich heimgeholt.

Wer weiß, wie sie dich diesmal wieder aufbauen?

In dir leben ist sich deinem schäumende­n Sog hingeben. Ein Wirbel, der alles zu vermischen scheint, was sich innerhalb deiner Stadtgrenz­en befindet. An deinen Straßen berühren sich Moscheen, Kirchen

und Tanzcafés; Gewürzhänd­ler und Zuckerbäck­er, die nach Rosenwasse­r duften.

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Doch nicht zuletzt begehren die jungen Menschen auf und kämpfen weiter
PICTUREDES­K Das Leben der Menschen in Beirut war schon vor der Explosions­katastroph­e eine einzige Herausford­erung. Doch nicht zuletzt begehren die jungen Menschen auf und kämpfen weiter

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