Glaube in Zeiten von Corona
Die Coronakrise ist nicht automatisch eine Therapie für Glaube und Kirche, aber sie ist eine Chance für eine neu erwachende Spiritualität.
Es ist in den letzten Monaten evident geworden, dass wir als Gesellschaft vor einem tief greifenden Wandel stehen. Maßgebliche Denkerinnen und Wissenschaftler gingen schon vor der Pandemie davon aus, dass wir Menschen nicht nur uns selbst, sondern das ganze uns bekannte Leben auf dem Planeten Erde gefährden. Es wäre schon lange höchste Zeit gewesen, unsere Veränderungsbereitschaft zu beweisen und lösungsorientiert unsere Lebensweise im Hinblick auf das Wohl aller Lebewesen zu verändern. Doch das Verharren in bisherigen Vorstellungen von Wirtschaft, Lifestyle und Konsum war zu verlockend und zu gemütlich. Zwar wussten wir alle um die Problematik der Lage, aber es schien unmöglich, etwas Gravierendes dagegen zu tun. Ganz ähnlich ist es in der Welt der Kirche. Obwohl Papst Franziskus Veränderungsbereitschaft signalisiert und ausgerufen hat, ist es in der Kirche zu keinem merklichen Aufbruch gekommen. Hoffnung wurde bei vielen zwar geweckt, doch Frustration breitet sich stattdessen immer stärker aus.
Viele Diözesen versuchen seit einiger Zeit durch mehr oder minder fantasiearme Strukturreformen, die alleine durch Geld- und Personalmangel angetrieben sind, sich auf die Zukunft einzustellen. Aber hat das alles auch mit dem eigentlichen Glauben zu tun? Hardware kann die Software nicht ersetzen. Ich persönlich habe in den letzten zwanzig Jahren oft befürchtet, dass ein Ereignis eintreten könnte, das die Menschen wieder in die Kirche treibt, ohne dass diese sich selbst verändern muss. Allein durch ihre Beharr
lichkeit könnte so eine Kirche trumpfen, ohne dass sie zukunftsfähige Reformen riskieren müsste. Doch das ist, wie wir alle gesehen haben, in der Coronakrise nicht passiert. Auch die jüngste Instruktion des Kleriker-Dikasteriums in Rom, das den Laien ihre zeitgemäßen Bürgerrechte in der Kirche explizit nicht zuspricht, ist jetzt gerade gar nicht hilfreich. Wider Erwarten so manches Klerikers hat die derzeitige Krise die Identität der Kirche nicht unbedingt gefördert. Da ist mehr zu tun, als nur zu warten oder Klimmzüge in der digitalen Welt zu machen.
In Zeiten wie diesen, in denen gerade durch die Technologie – und das ist eine bedenkliche Lehre der Coronazeit – vieles aus dem öffentlichen Leben in den Privatbereich gedrängt wird, ist der notwendige Antagonismus zwischen Form und Inhalt, zwischen Institutionen und individuellerer Betätigung verstärkt in den Blick zu nehmen. Ja, es kann sein, dass manche ihre Religiosität wie die radikale Kirchenrebellin Claudia Mönius leben. Religion ohne Kirche als Vision für einen neuen Glauben zu sehen, wie sie es tut, hat etwas Bestechendes, vor allem für reformorientierte Frustrierte.
Nach kurzem Nachdenken wird wieder klar, dass ohne Gefäße keine Inhalte transportiert werden können und dass persönlicher Glaube und Spiritualität auch einer Versammlung, einer Öffentlichkeit und einer Kirche bedürfen. Dazu kommt noch Corona, das die Gesellschaft weiter spaltet und einer ungewollten Veränderung unterwirft, von der wahrscheinlich nur wenige profitieren werden. Keinesfalls jedoch ist diese Pandemie eine automatische Therapie für Wirtschaft, Politik oder Religion. Doch die Krise macht manche Risse und Brüche im Gebälk sichtbar. Dies könnte dazu führen, in eine reifere, verantwortungsvollere Bauweise investieren zu wollen. Doch bevor dies geschieht, ist ein Prozess durchzumachen, der erst begonnen hat. Wir merken als Individuen und als Gesellschaft, dass wir nicht wie bisher weitermachen können. Kontrollverlust, Vulnerabilität und das Wissen, dass das hedonistische Ego nicht mehr das Zentrum der Betrachtung sein kann, verändern uns stärker, als wir wahrhaben wollen.
Dabei entsteht mehr Nachdenklichkeit und durch das Zurückgeworfenwerden auf uns selbst die Chance für eine neu erwachende Spiritualität. Viele von uns erfahren in diesen Tagen das Pochen an ebendieser Türe. Doch wie und wohin die Reise geht, ist noch unklar. Eines ist gewiss: Wir sind aufgewacht und könnten miteinander neu formulieren, was für uns das Wesentliche ist. Das Wesentliche sowohl für unsere Gesellschaft – dabei dürfen wir die Verlierer nicht vergessen – als auch das Wesentliche für unser persönliches Leben. Dabei tauchen für mehr Menschen denn je Fragen, Erfahrungen und Erkenntnisse auf, die in den Bereich der Spiritualität führen. Dieses Grundsubstrat ist derzeit in uns allen am Werden und bedarf auch des geeigneten Gefäßes und da ist die Kirche gefragt. Wie sagte Jesus noch? Neuer Wein in neue Schläuche.
*Hans-Peter Premur ist Vorstandsmitglied der Pfarrerinitiative, Hochschulseelsorger und Pfarrer von Krumpendorf.