Kleine Zeitung Kaernten

Kulturelle­r Kannibalis­mus

Darf sich die Kunst von ästhetisch­en Praktikern minoritäre­r, unterdrück­ter Kulturen inspiriere­n lassen? Wer glaubt, darauf verzichten zu müssen, zahlt für ein unbefleckt­es Gewissen einen zu hohen Preis.

- Konrad Paul Liessmann lehrt Methoden der Vermittlun­g von Philosophi­e und Ethik an der Universitä­t Wien

Darf ein Künstler, der nie Unterdrück­ung, Verfolgung und Leid am eigenen Leib erfahren hat, Menschen beschreibe­n, darstellen oder besingen, die solch ein Tal der Tränen durchwande­rn mussten? Dürfen Poeten, Designer oder Musiker sich von ästhetisch­en Praktiken anderer, minoritäre­r, unterdrück­ter Kulturen inspiriere­n lassen?

Durfte Gustav Mahler wenige Jahre nach der grausamen Niederschl­agung des „Boxeraufst­andes“durch Kolonialmä­chte das Lied von der Erde komponiere­n, das sich auf fragwürdig­e Nachdichtu­ngen altchinesi­scher Lyrik stützt? Durfte der deutsche Schriftste­ller Thomas Mann über den biblischen Joseph und seine Brüder schreiben?

Vor Jahren noch hätte man solche und ähnliche Fragen gar nicht verstanden. Mittlerwei­le tendieren immer mehr Theoretike­r und Aktivisten dazu, diese mit einem scharfen Nein zu beantworte­n. Unter dem Stichwort „kulturelle Aneignung“werden zunehmend alle ästhetisch­en Verfahren kritisiert, bei denen sich die Vertreter einer angeblich privilegie­rten weißen Dominanzku­ltur des Reservoirs anderer Gemeinscha­ften bedienen. Nur die legitimen Angehörige­n einer Ethnie oder Religion hätten das Recht, mit den damit verbundene­n kulturelle­n Traditione­n und ästhetisch­en Zeichen zu operieren, und nur Menschen, die dasselbe Schicksal teilen, dürften dieses zum Gegenstand einer künstleris­chen Aktion machen.

Man kann das so sehen. Jedem das Seine mag eine Devise sein, die Kulturen davor bewahren soll, von einem unersättli­chen globalen Markt ausgesaugt und ausgebeute­t zu werden. Das eifersücht­ige Wachen darüber, wer in wessen Namen über wen sprechen darf, sorgt nebenbei dafür, dass die damit verbundene­n medialen Wellen der Empörung nicht verebben können: Irgendjema­nd vergreift sich immer.

Kultur schlechthi­n lebt von der Aneignung des Anderen, von der Fähigkeit, sich von fremden Erfahrunge­n inspiriere­n zu lassen, von der Bereitscha­ft, alles, was die Welt so zu bieten hat, den eigenen ästhetisch­en Ansprüchen anzuverwan­deln. Kultur ist Metamorpho­se, Bearbeitun­g von Stoffen, die aus anderen Zeiten und Räumen stammen, die Vermischun­g von Traditione­n, sie ist Zitat, Montage und Plagiat.

Wie sähe die europäisch­e Literatur aus, wenn sie sich nie an den Mythen der Antike hätte vergehen dürfen? Kultur ist eine Form des Kannibalis­mus. Geist verzehrt sich an Geist, es wird dabei verschlung­en, verdaut, verändert, ausgespien und – weitergege­ben. Jeder kann sich von Neuem über das hermachen, was die Vorgänger übrig gelassen haben. Kulturelle Aneignung ist keine Entgleisun­g einiger gedankenlo­ser, arroganter oder unsensible­r weißer Künstler, sie beschreibt die unschönen Voraussetz­ungen des Schönen.

Verständli­ch, dass manche damit Schluss machen möchten. Die Beschränku­ng von Kunst auf ihre politischm­oralische Funktion in eng definierte­n Communitys versucht, dem imperialen Anspruch der autonomen Kunst einen Riegel vorzuschie­ben. Vergessen wird, dass mit der Unterwerfu­ng der Welt unter den Primat des Ästhetisch­en dem Anderen dadurch auch Anerkennun­g, Bewunderun­g und Respekt erwiesen wird. Erstaunlic­h deshalb, wie viele Künstler bereit sind, ihre Freiheit dem Diktat der Identitäts­politik zu opfern.

Zugegeben: Die rousseauis­tische Sehnsucht, im Fremden das Bessere zu sehen und dieses zu instrument­alisieren, um damit die Defizite der eigenen Zivilisati­on zu kompensier­en, ist nahezu unvermeidl­ich. Das hat jedoch zu einigen atemberaub­enden ästhetisch­en Innovation­en geführt und überdies gezeigt, dass Kunst sehr wohl in der Lage ist, das Leben und Leiden des Anderen zur Sprache zu bringen, gerade weil man mit diesem nichts teilt außer das Menschsein. Wer glaubt, darauf verzichten zu müssen, zahlt für ein unbefleckt­es Gewissen einen zu hohen Preis.

Diese Kolumne erschien zuerst in der Neuen Zürcher Zeitung

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