Kultureller Kannibalismus
Darf sich die Kunst von ästhetischen Praktikern minoritärer, unterdrückter Kulturen inspirieren lassen? Wer glaubt, darauf verzichten zu müssen, zahlt für ein unbeflecktes Gewissen einen zu hohen Preis.
Darf ein Künstler, der nie Unterdrückung, Verfolgung und Leid am eigenen Leib erfahren hat, Menschen beschreiben, darstellen oder besingen, die solch ein Tal der Tränen durchwandern mussten? Dürfen Poeten, Designer oder Musiker sich von ästhetischen Praktiken anderer, minoritärer, unterdrückter Kulturen inspirieren lassen?
Durfte Gustav Mahler wenige Jahre nach der grausamen Niederschlagung des „Boxeraufstandes“durch Kolonialmächte das Lied von der Erde komponieren, das sich auf fragwürdige Nachdichtungen altchinesischer Lyrik stützt? Durfte der deutsche Schriftsteller Thomas Mann über den biblischen Joseph und seine Brüder schreiben?
Vor Jahren noch hätte man solche und ähnliche Fragen gar nicht verstanden. Mittlerweile tendieren immer mehr Theoretiker und Aktivisten dazu, diese mit einem scharfen Nein zu beantworten. Unter dem Stichwort „kulturelle Aneignung“werden zunehmend alle ästhetischen Verfahren kritisiert, bei denen sich die Vertreter einer angeblich privilegierten weißen Dominanzkultur des Reservoirs anderer Gemeinschaften bedienen. Nur die legitimen Angehörigen einer Ethnie oder Religion hätten das Recht, mit den damit verbundenen kulturellen Traditionen und ästhetischen Zeichen zu operieren, und nur Menschen, die dasselbe Schicksal teilen, dürften dieses zum Gegenstand einer künstlerischen Aktion machen.
Man kann das so sehen. Jedem das Seine mag eine Devise sein, die Kulturen davor bewahren soll, von einem unersättlichen globalen Markt ausgesaugt und ausgebeutet zu werden. Das eifersüchtige Wachen darüber, wer in wessen Namen über wen sprechen darf, sorgt nebenbei dafür, dass die damit verbundenen medialen Wellen der Empörung nicht verebben können: Irgendjemand vergreift sich immer.
Kultur schlechthin lebt von der Aneignung des Anderen, von der Fähigkeit, sich von fremden Erfahrungen inspirieren zu lassen, von der Bereitschaft, alles, was die Welt so zu bieten hat, den eigenen ästhetischen Ansprüchen anzuverwandeln. Kultur ist Metamorphose, Bearbeitung von Stoffen, die aus anderen Zeiten und Räumen stammen, die Vermischung von Traditionen, sie ist Zitat, Montage und Plagiat.
Wie sähe die europäische Literatur aus, wenn sie sich nie an den Mythen der Antike hätte vergehen dürfen? Kultur ist eine Form des Kannibalismus. Geist verzehrt sich an Geist, es wird dabei verschlungen, verdaut, verändert, ausgespien und – weitergegeben. Jeder kann sich von Neuem über das hermachen, was die Vorgänger übrig gelassen haben. Kulturelle Aneignung ist keine Entgleisung einiger gedankenloser, arroganter oder unsensibler weißer Künstler, sie beschreibt die unschönen Voraussetzungen des Schönen.
Verständlich, dass manche damit Schluss machen möchten. Die Beschränkung von Kunst auf ihre politischmoralische Funktion in eng definierten Communitys versucht, dem imperialen Anspruch der autonomen Kunst einen Riegel vorzuschieben. Vergessen wird, dass mit der Unterwerfung der Welt unter den Primat des Ästhetischen dem Anderen dadurch auch Anerkennung, Bewunderung und Respekt erwiesen wird. Erstaunlich deshalb, wie viele Künstler bereit sind, ihre Freiheit dem Diktat der Identitätspolitik zu opfern.
Zugegeben: Die rousseauistische Sehnsucht, im Fremden das Bessere zu sehen und dieses zu instrumentalisieren, um damit die Defizite der eigenen Zivilisation zu kompensieren, ist nahezu unvermeidlich. Das hat jedoch zu einigen atemberaubenden ästhetischen Innovationen geführt und überdies gezeigt, dass Kunst sehr wohl in der Lage ist, das Leben und Leiden des Anderen zur Sprache zu bringen, gerade weil man mit diesem nichts teilt außer das Menschsein. Wer glaubt, darauf verzichten zu müssen, zahlt für ein unbeflecktes Gewissen einen zu hohen Preis.
Diese Kolumne erschien zuerst in der Neuen Zürcher Zeitung