Mit barer Münze“
Judith Schalansky wird heute mit dem Christine-Lavant-Preis ausgezeichnet. Ein Gespräch über die Kärntner Dichterin, den Blick vom Rand auf die Gesellschaft und einen geplanten Virenatlas.
Sie bekommen heute in Wien den Christine-Lavant-Preis. Welche Beziehung haben Sie zur Kärntner Autorin?
JUDITH SCHALANSKY: Das ist ja das Schöne an einem Preis. Er stiftet Beziehung, stellt Verbindungen her, spürt Verwandtschaften auf. Eine sehr lebendige Form der Denkmalspflege. Ich bin der Jury jedenfalls überaus dankbar dafür, mir mit ihrer Wahl einen der denkbar schönsten Anlässe gegeben zu haben, mich endlich rückhaltlos auf das wilde Werk der Christine Lavant einzulassen.
Sehen Sie Parallelen eigenen Werk?
Durchaus. Es ist das Interesse für das vermeintlich Randständige, der Blick auf jene, die gerne an der Peripherie verortet werden: Menschen, die nicht ganz gesund, nicht vollkommen lebensfroh, nicht wohlhabend sind – arm an Möglichkeiten. Aus meiner Beschäftigung mit abgelegenen Inseln weiß ich aber, dass man gerade vom Rand einen sehr guten Blick auf die Gesellschaft hat.
Können Sie sich noch daran erinnern, wann Sie das erste Mal mit Lavant-Werken in Berührung gekommen sind?
Die Lavant war mir lange eine fremde Gestalt, die ich aus dem Augenwinkel wahrgenommen habe, und deren Werk und Wirken ein gewisses, eingeweihtes, auch abschreckendes Raunen einhüllte. Man muss erst einmal durch diese Biografie eines geschundenen Lebens durch. Die Lavant ist eine, die auch in der Kunst mit barer Münze zahlt. Das macht sie schon allein von den Umständen her so unbestechlich. Viel entscheidender ist aber, dass ihr Werk – die Gedichte wie die Erzählungen – kühn ist, überraschend und voller Mehrdeutigkeiten. Es erscheint mir wie ein Kontinent, dessen eigentliche Erforschung mir noch bevorsteht. haben selbst in Ihrem Buch „Verzeichnis einiger Verluste“geschrieben: „Am Leben zu sein bedeutet, Verlust zu erleiden.“Eine deprimierende Erkenntnis oder auch eine befreiende?
Ganz klar eine befreiende. Ohne aufgeschürfte Knie ist das Leben nun einmal nicht zu haben. Sich allen schmerzhaften Erfahrungen gegenüber wappnen zu wollen, hieße, das Leben zu vermeiden. Das Schreiben, ob nun für sich oder andere, kann dabei helfen, mit dieser Ambivalenz klarzukommen. Die ungarische Philosophin Agnes Heller hat einmal gesagt: „Kein Gewinn ohne Verlust. Kein Verlust ohne Gewinn.“
Derzeit erleben wir alle Verluste angesichts der Corona-Pandemie: Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt, wir sollen Mund-NasenSchutz tragen und weniger Sozialkontakte haben. Wie geht es Ihnen damit?
Ich bin noch immer fasziniert davon, wie schnell wir uns ganz neue Verhaltensweisen angewöhnen können. Der Mensch ist ein erstaunlich anpassungsfähiges Tier. Auch an den Ausnahmezustand gewöhnt man sich. Immerhin: Jemanden fest zu umarmen, ist auf einmal eine fast schon intime Handlung.
Wie haben Sie den Lockdown erlebt? Als Einschränkung oder als Reduzierung aufs Wesentliche? Das ganze Spektrum. Lustig war, wie man anfangs noch die Häuslichkeit genoss. Ich habe viel aussortiert und die Küchenarbeitsplatte abgeschliffen. Aber irgendwann wünschte ich mir schon sehr, dass die Kita und die Bibliothek wieder aufmachten – und die Tage wieder mehr Struktur aufwiesen.
Hier Corona-Leugner, dort Befürworter aller Sicherheitsmaßnahmen: Hat das Virus die Gräben in der Gesellschaft vertieft oder nur sichtbarer gemacht?
Sie hat vor allem sichtbar gemacht, wie fragil die Gesellschaft ist, wie attraktiv das magische Denken und wie ungeheuer schwer es ist, sich in Zeiten der Krise auf einen Konsens zu einigen.
Sie geben im Berliner Verlag Matthes & Seitz die Reihe „Naturkunden“heraus. Es gibt wunderDie