Treffen Sie niemanden!
Das Besuchsverbot im Pflegeheim ist eine Sackgasse. Wenn wir Älteren ihre Würde lassen wollen, brauchen wir ein Bekenntnis zum Massentest – und zum Restrisiko.
Die Forderung nach „sozialer Distanz“war uns von Anfang an nicht geheuer. Im Frühjahr, als wir diesen und viele weitere Ausdrücke unsanft erlernen mussten, verspürten nicht wenige Zeitgenossen eine Hemmung, so etwas überhaupt explizit auszusprechen. Zu sehr geht diese Handlungsanweisung wider unsere Natur. Denn der Mensch ist ein Herdentier, dessen Existenz sich erst in der Wärme der Gruppe, aber auch in ihrem Widerschein manifestiert.
Doch der Mensch ist auch ein Gewohnheitstier, und er gewöhnt sich an fast alles. Nur wenig Widerspruch regte sich, als im ersten Lockdown ein Besuchsverbot für Pflegeheime erlassen wurde. Unsere Alten, die wir eben noch ehren sollten, bildeten plötzlich eine „vulnerable Gruppe“, die unter den Glassturz zu verfrachten war. Es wurde sogar die Forderung laut, die Senioren als Gesamtheit zu isolieren und dadurch dem Rest der Gesellschaft das schmerzhafte Niederfahren der Schulund Arbeitswelt zu ersparen. So rasch hat uns also die „soziale Distanz“an den Rand der sozialen Distanzierung geführt, mit
ernst.sittinger@kleinezeitung.at
ten ins Minenfeld der Gruppenegoismen zwischen Jung und Alt.
Inzwischen sind wir klüger geworden. Einsamkeit im Alter war immer ein Problem. Niemand kann es als gute Lösung empfinden, Verwandte und Freunde aus Angst vor Ansteckung an ihrem Lebensabend sich selbst zu überlassen. Es ist daher unsere verdammte Pflicht, etwas Humaneres zu entwickeln als das Kontaktverbot zwischen Oma und Enkerl.
In Wahrheit hatten wir in den letzten Jahrzehnten das Glück, durch hoch entwickelte Krankenhygiene und durch die Macht der Impfungen und Medikamente dieser Frage gar nicht ins Auge blicken zu müssen. Jetzt aber steht sie mächtig im Raum, und angesichts der alarmierend hohen Corona-Todeszahlen in den Pflegeheimen brauchen wir sturmfeste Strategien. Im Grunde gibt es nur ein
Rezept: Bewohner, Bedienstete und Besucher von Heimen müssen in einen gemeinsamen Regelkreis einbezogen werden, der durch ständige und lückenlose Testung keinen Platz lässt für das schleichende Einschleppen des Virus. Die umständlichen PCR-Tests kamen dafür nur bedingt infrage. Doch mit den jetzt zu Hunderttausenden angelieferten Antigen-Tests steht uns ein praktikables Werkzeug zu Gebote.
Treffen Sie niemanden! Dieser Auftrag des Bundeskanzlers vom letzten Samstag hat schon heute das Zeug zum Klassiker. Er hat fraglos seine Berechtigung, wenn es ums vorübergehende Vermeiden von Garagenpartys, Hinterhoffesten und übrigens auch Möbelhauseröffnungen geht. Aber Lebensqualität für alle muss ein zentraler Wert bleiben. ie wenig vermögen wir alleine, wie kostbar ist Gemeinschaft: Das lehrt uns, nach Jahrzehnten von Vereinzelung und Individualismus, unvermutet eine Pandemie. Diese Pointe hat sich keiner gewünscht. Aber wenn wir schon das Lehrgeld zahlen müssen, dürfen wir auch lernen.
W