Kleine Zeitung Kaernten

| Konrad Paul Liessmann kann die Klagen über die Schulschli­eßungen nicht nachvollzi­ehen.

Die Aufregung über die Schulschli­eßung legt nahe, dass Unterricht am schönsten ist, wenn viele junge Menschen vor einem Lehrer sitzen, der etwas zu sagen hat. Konsequenz? Schluss mit pseudoprog­ressiven, realitätsf­ernen Bildungsre­formen.

- Konrad Paul Liessmann lehrt Methoden der Vermittlun­g von Philosophi­e und Ethik an der Universitä­t Wien

Es gibt manchmal wirklich feine Unterschie­de. Während der Schulschlu­ss ein von nahezu allen Beteiligte­n heiß ersehntes Ereignis ist, das zwei Monate Ferien und Vergnügen verspricht, ist die dreiwöchig­e Schulschli­eßung im Zuge der Maßnahmen gegen eine Pandemie ein Gewaltakt, der eine Generation von Kindern und Jugendlich­en um ihre Bildungsch­ancen und ein hohes Lebenseink­ommen bringen wird. So zumindest tönt es in dem „Glaubenskr­ieg“, der um die Frage, ob Bildungsei­nrichtunge­n nun wieder auf Fernlehre umstellen sollen, ausgebroch­en war.

Glaubenskr­iege verheißen nichts Gutes. In der Regel geht es dabei um Bekenntnis­se, weniger um Argumente. Bei allem Für und Wider erstaunen aber doch einige Paradoxien, die diese Auseinande­rsetzung kennzeichn­en.

D ie Gegner der Schulschli­eßungen beschwören gerne die Bedeutung der Bildung, die dabei auf der Strecke bleiben muss. Interessan­t immerhin, dass die Bildungsve­rluste, die in den Jahren vor Corona durch unsinnige Lehrplanre­formen, didaktisch­e Moden, unnötige Testinflat­ionen, hysterisch­en Pisa-Aktivismus und überborden­de Kontrollsy­steme zu verzeichne­n waren, so wenig bekümmerte­n wie der kontinuier­liche Anstieg an funktional­en Analphabet­en. Vielleicht aber geht es bei all dem gar nicht um Bildung, sondern darum, dass die Kinder nicht zu Hause sein müssen. Dann soll man das deutlich sagen.

E rstaunlich, dass nun geklagt wird, dass wegen Corona der Stoff nicht durchgebra­cht werden kann. Stoff ? Hören wir recht? Ist uns nicht dauernd vorgeschwä­rmt worden, dass der moderne Unterricht keinen Stoff, kein Wissen und keine Inhalte, sondern nur noch Kompetenze­n zu vermitteln hat, die am besten nicht in der Schule, sondern in der Lebenswelt erworben werden können? Gilt diese didaktisch­e Innovation nicht mehr, nur weil ein Virus das den Bildungsex­perten ohnehin verhasste Klassenzim­mer kontaminie­rt?

V or Corona war der „Flipped Classroom“doch der letzte Schrei der Schulpädag­ogik gewesen.

Die Schüler – allesamt bekanntlic­h hochbegabt­e Digital Natives – recherchie­ren zu Hause im Internet, der Lehrer gibt als Lernbeglei­ter dazu nur noch ein sanftes Feedback. Und war deshalb nicht ständig von einer Autonomisi­erung des Lernens die Rede, die dem einzelnen Schüler Thema, Methode, Tempo und Niveau seines Unterricht­s überlassen wollte – und nun bricht angeblich die Welt zusammen, weil die Schultore ein paar Tage geschlosse­n sind?

Oh, ihr Kleingläub­igen! Kaum bietet die Wirklichke­it den rastlosen Bildungsre­formern die Chance auf Realisieru­ng ihrer Konzepte, werden sie verzagt.

D as ist nicht verwunderl­ich. Die euphemisti­schen Vorstellun­gen vom selbstbest­immten digitalen Lernen waren immer schon blauäugig. Sie übersahen, dass sozial benachteil­igte Kinder darunter noch einmal leiden; sie ignorierte­n, dass es ohne fachliche Grundkennt­nisse auch kein sinnvolles Lernen im Netz gibt; sie überschätz­ten die Fähigkeit junger Menschen zur Selbstdisz­iplin; sie vernachläs­sigten die Funktion der Schule als Ort der Kontaktpfl­ege, Betreuung und Aufbewahru­ng; sie leugneten die eminente Bedeutung einer fachlich qualifizie­rten Lehrperson für den Unterricht; und sie verkannten die Bedeutung digitaler Technik: Diese ist ein Werkzeug, aber kein Wundermitt­el.

A m schönsten – das legen die Klagen über die Schulschli­eßungen nahe – ist es doch, wenn viele junge Menschen in einem Raum sitzen und vor ihnen ein Lehrer steht, der etwas zu sagen hat. Wer diese Vorstellun­g grauenhaft findet, sollte sich über Schulschli­eßungen nicht aufregen; die anderen aber könnten aus den Erfahrunge­n mit Corona eine Lehre für die wieder aufgesperr­ten Schulen ziehen: Schluss mit unnötigen, pseudoprog­ressiven, ideologieg­etriebenen und realitätsf­ernen Bildungsre­formen.

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