Aus dem Ruder gelaufen
Im Frühjahr steuerte die ungleiche türkis-grüne Koalitionsspitze Österreich noch glimpflich durch die Coronakrise, im Herbst lief vieles aus dem Ruder.
Vor genau einem Jahr gingen die türkis-grünen Koalitionsgespräche ins Finale. Zwei Monate lang hatten die beiden Wahlgewinner und Parteichefs Sebastian Kurz (ÖVP) und Werner Kogler (Grüne) um eine Einigung gerungen. Auf 319 Seiten wurde schließlich das „Beste aus beiden Welten“niedergeschrieben. Die ÖVP setzte in den Verhandlungen alles auf die Sanierung des Budgets, die Stärkung des Mittelstandes, auf weniger Staat, einen effektiven Grenzschutz, die Grünen sahen sich als „GameChanger“beim Klimaschutz.
der gleich nach Neujahr von Kurz und Kogler stolz der breiten Öffentlichkeit präsentierte Koalitionsvertrag taugte vier Wochen später nur noch als Staubfänger im Bücherregal. Das heimtückische Coronavirus scherte sich weder um Landesgrenzen und Grenzregime noch um die komplexe Architektonik eines Regierungsabkommens. In dem Konvolut kommen die Begriffe Seuche und Pandemie je einmal vor, im Veterinärkapitel sowie – nahezu prophetisch – im Zusammenhang mit der Notwendigkeit der Schaffung eines Krisenstabs. Der Oberösterreicher Rudolf Anschober wollte in Wien als großer Sozialpolitiker durchstarten, musste seine Pläne sehr schnell begraben, das Nulldefizit wurde auf 2025 verschoben.
Seit Februar stecken Türkis und Grün im Krisenmodus fest, die Auftritte des virologischen Quartetts wurden zur bestimmenden innenpolitischen Konstante in dem abgelaufenen Jahr. Dass die schärfsten Grundrechtseinschränkungen seit 1945 ausgerechnet die UnterDoch
schrift eines grünen Politikers (Anschober) trugen, bewahrte Österreich vor einer scharfen gesellschaftlichen Polarisierung – man stelle sich vor, Türkis-Blau (mit Kickl, Strache, Hartinger-Klein) hätte die Ausgangssperren verordnet, mit den Grünen in Opposition.
Trotz aller Kritik hat Österreich die erste Coronawelle glimpflich überstanden, ein Blick über die Landesgrenzen Bei jeder Gelegenheit sparte der Kanzler nicht mit Eigen- und Selbstlob. Nur wenige andere europäische Länder wurden von der zweiten Welle so heftig erfasst wie Österreich. Bis Oktober starben 1000 Leute an Corona, seit Anfang November fast 5000. Nicht nur, dass Kurz, Anschober & Co. groben Fehleinschätzungen („Licht am Ende des Tunnels“, „keine zweite Welle“) unterlagen und viel zu spät die Notbremse zogen (Experten hatten bereits am 20. Oktober Alarm geschlagen, der Lockdown startete zwei Wochen später). Auch der interne Wettlauf um die schnellere Schlagzeile lähmte die Politik. Bitter gerächt haben sich die kolossalen Versäumnisse beim Schutz der Alten- und Pflegeheime. Dass immer noch 40 Prozent der Toten in Heimen zu beklagen sind, ist unverständgenügt. lich. Was der Regierung zugutezuhalten ist: Die Intensivstationen sind nicht kollabiert.
Steuerte die Regierung im Frühjahr das Land einigermaßen souverän durch die Krise (abgesehen von Ischgl und den Problemen bei der Auszahlung der Direkthilfe), ist seit dem Herbst vieles aus dem Ruder gelaufen. So gesehen ist die Impfung auch eine Erlösung für die Regierung.