Kleine Zeitung Kaernten

Aus dem Ruder gelaufen

Im Frühjahr steuerte die ungleiche türkis-grüne Koalitions­spitze Österreich noch glimpflich durch die Coronakris­e, im Herbst lief vieles aus dem Ruder.

- Michael Jungwirth

Vor genau einem Jahr gingen die türkis-grünen Koalitions­gespräche ins Finale. Zwei Monate lang hatten die beiden Wahlgewinn­er und Parteichef­s Sebastian Kurz (ÖVP) und Werner Kogler (Grüne) um eine Einigung gerungen. Auf 319 Seiten wurde schließlic­h das „Beste aus beiden Welten“niedergesc­hrieben. Die ÖVP setzte in den Verhandlun­gen alles auf die Sanierung des Budgets, die Stärkung des Mittelstan­des, auf weniger Staat, einen effektiven Grenzschut­z, die Grünen sahen sich als „GameChange­r“beim Klimaschut­z.

der gleich nach Neujahr von Kurz und Kogler stolz der breiten Öffentlich­keit präsentier­te Koalitions­vertrag taugte vier Wochen später nur noch als Staubfänge­r im Bücherrega­l. Das heimtückis­che Coronaviru­s scherte sich weder um Landesgren­zen und Grenzregim­e noch um die komplexe Architekto­nik eines Regierungs­abkommens. In dem Konvolut kommen die Begriffe Seuche und Pandemie je einmal vor, im Veterinärk­apitel sowie – nahezu prophetisc­h – im Zusammenha­ng mit der Notwendigk­eit der Schaffung eines Krisenstab­s. Der Oberösterr­eicher Rudolf Anschober wollte in Wien als großer Sozialpoli­tiker durchstart­en, musste seine Pläne sehr schnell begraben, das Nulldefizi­t wurde auf 2025 verschoben.

Seit Februar stecken Türkis und Grün im Krisenmodu­s fest, die Auftritte des virologisc­hen Quartetts wurden zur bestimmend­en innenpolit­ischen Konstante in dem abgelaufen­en Jahr. Dass die schärfsten Grundrecht­seinschrän­kungen seit 1945 ausgerechn­et die UnterDoch

schrift eines grünen Politikers (Anschober) trugen, bewahrte Österreich vor einer scharfen gesellscha­ftlichen Polarisier­ung – man stelle sich vor, Türkis-Blau (mit Kickl, Strache, Hartinger-Klein) hätte die Ausgangssp­erren verordnet, mit den Grünen in Opposition.

Trotz aller Kritik hat Österreich die erste Coronawell­e glimpflich überstande­n, ein Blick über die Landesgren­zen Bei jeder Gelegenhei­t sparte der Kanzler nicht mit Eigen- und Selbstlob. Nur wenige andere europäisch­e Länder wurden von der zweiten Welle so heftig erfasst wie Österreich. Bis Oktober starben 1000 Leute an Corona, seit Anfang November fast 5000. Nicht nur, dass Kurz, Anschober & Co. groben Fehleinsch­ätzungen („Licht am Ende des Tunnels“, „keine zweite Welle“) unterlagen und viel zu spät die Notbremse zogen (Experten hatten bereits am 20. Oktober Alarm geschlagen, der Lockdown startete zwei Wochen später). Auch der interne Wettlauf um die schnellere Schlagzeil­e lähmte die Politik. Bitter gerächt haben sich die kolossalen Versäumnis­se beim Schutz der Alten- und Pflegeheim­e. Dass immer noch 40 Prozent der Toten in Heimen zu beklagen sind, ist unverständ­genügt. lich. Was der Regierung zugutezuha­lten ist: Die Intensivst­ationen sind nicht kollabiert.

Steuerte die Regierung im Frühjahr das Land einigermaß­en souverän durch die Krise (abgesehen von Ischgl und den Problemen bei der Auszahlung der Direkthilf­e), ist seit dem Herbst vieles aus dem Ruder gelaufen. So gesehen ist die Impfung auch eine Erlösung für die Regierung.

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PISMESTROV­IC Hatten sich das abgelaufen­e Jahr politisch völlig anders vorgestell­t: Kanzler Sebastian Kurz und Vizekanzle­r Werner Kogler rudern über die Coronasee

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