Rosinenpicken für Profis
Je mehr Details aus dem Brexit-Vertrag bekannt werden, desto eher erkennt man, wie geschickt die EU verhandelt hat – mithilfe der deutschen Ratspräsidentschaft.
Wer von der endlosen Brexit-Geschichte nichts mehr hören will: Sorry, ganz sind wir noch nicht durch. Einerseits machen sich gerade Experten aller Branchen daran, sich durch die 1250 Seiten des „Weihnachtsvertrages“zu wühlen, andererseits steht uns Tag eins der zukünftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien ja erst noch bevor – und viele, viele werden folgen. Mit ebenso vielen Überraschungen.
Zwei Frauen und ein Mann – dieses Trio hat den Karren aus dem Dreck gezogen und dabei für die EU gerettet, was zu retten war; Chefverhandler Michel Barnier hat sich selbst ein Denkmal gesetzt, Ursula von der Leyen und Angela Merkel (als temporäre Ratsvorsitzende) haben im Doppelpass Boris Johnson in die Enge getrieben.
Während Barnier auf beiden Seiten des Ärmelkanals ungeteilte Anerkennung genießt, sind die Kommissionspräsidentin und die Kanzlerin, beide Deutsche, oft heftiger Kritik und Anfeindungen ausgesetzt. Viele können den Abgang Merkels aus der Politik gar nicht erwarten; von der Leyen wiedeDas
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rum wird vorgeworfen, eine durchdesignte Ankündigungspolitik ohne echte Problemlösungskompetenz zu machen.
Doch letzten Endes haben diese drei (und ein ziemlich engagiertes Verhandlungsteam der Kommission) die Briten nach allen Regeln der Kunst ausmanövriert. Zölle fallen nun doch nicht an – das kommt vor allem der exportstarken EU selbst zugute, dafür müssen die Briten strenge Herkunftsnachweise und Belege für Einhaltung aller Standards liefern. Umgekehrt haben es die Briten bei einem ihrer Exportschlager, den Dienstleistungen, viel schwerer. An Erasmus nehmen sie nicht mehr teil – Hunderttausende europäische Studenten, die gutes Geld und Knowhow-Potenzial auf die Insel brachten, fallen weg (und müssen durch chinesische oder saudische Oberklasse-Studenten ersetzt werden). Und so fort.
Rosinenpicken, das den Briten bei den Verhandlungen vorgeworfen war, gelang in Wirklichkeit der EU. Sie blieb, auch das ein Verdienst Merkels, geschlossen bis zuletzt und ließ sich weder von Theresa May noch von Boris Johnson durch bilaterale Mauscheleien auseinanderdividieren. Die Union bleibt für das Vereinigte Königreich der wichtigste Handelspartner und somit gelten auch die Regeln der EU – doch der Status Großbritanniens ist nun hinter jenen der Schweiz oder Norwegens zurückgefallen, die beide in die EU-Kasse einzahlen, ohne Mitglied zu sein, dafür aber auch Vorteile lukrieren. ährend Großbritannien nun sein Heil in neuen Handelsverträgen mit dem Rest der Welt suchen muss und dabei lernt, dass es als einzelnes Land mit mehr unangenehmen Begehrlichkeiten zu kämpfen hat als der 450Millionen-Einwohner-Markt EU, kann Angela Merkel ihren zweiten und letzten Ratsvorsitz beruhigt in die Hände der portugiesischen Nachfolger legen.
In drei Tagen beginnt die neue EU-Zeitrechnung. Diesmal wirklich ohne die Briten.
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