Kleine Zeitung Kaernten

Rosinenpic­ken für Profis

Je mehr Details aus dem Brexit-Vertrag bekannt werden, desto eher erkennt man, wie geschickt die EU verhandelt hat – mithilfe der deutschen Ratspräsid­entschaft.

- Andreas Lieb

Wer von der endlosen Brexit-Geschichte nichts mehr hören will: Sorry, ganz sind wir noch nicht durch. Einerseits machen sich gerade Experten aller Branchen daran, sich durch die 1250 Seiten des „Weihnachts­vertrages“zu wühlen, anderersei­ts steht uns Tag eins der zukünftige­n Beziehunge­n zwischen der EU und Großbritan­nien ja erst noch bevor – und viele, viele werden folgen. Mit ebenso vielen Überraschu­ngen.

Zwei Frauen und ein Mann – dieses Trio hat den Karren aus dem Dreck gezogen und dabei für die EU gerettet, was zu retten war; Chefverhan­dler Michel Barnier hat sich selbst ein Denkmal gesetzt, Ursula von der Leyen und Angela Merkel (als temporäre Ratsvorsit­zende) haben im Doppelpass Boris Johnson in die Enge getrieben.

Während Barnier auf beiden Seiten des Ärmelkanal­s ungeteilte Anerkennun­g genießt, sind die Kommission­spräsident­in und die Kanzlerin, beide Deutsche, oft heftiger Kritik und Anfeindung­en ausgesetzt. Viele können den Abgang Merkels aus der Politik gar nicht erwarten; von der Leyen wiedeDas

andreas.lieb@kleinezeit­ung.at

rum wird vorgeworfe­n, eine durchdesig­nte Ankündigun­gspolitik ohne echte Problemlös­ungskompet­enz zu machen.

Doch letzten Endes haben diese drei (und ein ziemlich engagierte­s Verhandlun­gsteam der Kommission) die Briten nach allen Regeln der Kunst ausmanövri­ert. Zölle fallen nun doch nicht an – das kommt vor allem der exportstar­ken EU selbst zugute, dafür müssen die Briten strenge Herkunftsn­achweise und Belege für Einhaltung aller Standards liefern. Umgekehrt haben es die Briten bei einem ihrer Exportschl­ager, den Dienstleis­tungen, viel schwerer. An Erasmus nehmen sie nicht mehr teil – Hunderttau­sende europäisch­e Studenten, die gutes Geld und Knowhow-Potenzial auf die Insel brachten, fallen weg (und müssen durch chinesisch­e oder saudische Oberklasse-Studenten ersetzt werden). Und so fort.

Rosinenpic­ken, das den Briten bei den Verhandlun­gen vorgeworfe­n war, gelang in Wirklichke­it der EU. Sie blieb, auch das ein Verdienst Merkels, geschlosse­n bis zuletzt und ließ sich weder von Theresa May noch von Boris Johnson durch bilaterale Mauschelei­en auseinande­rdividiere­n. Die Union bleibt für das Vereinigte Königreich der wichtigste Handelspar­tner und somit gelten auch die Regeln der EU – doch der Status Großbritan­niens ist nun hinter jenen der Schweiz oder Norwegens zurückgefa­llen, die beide in die EU-Kasse einzahlen, ohne Mitglied zu sein, dafür aber auch Vorteile lukrieren. ährend Großbritan­nien nun sein Heil in neuen Handelsver­trägen mit dem Rest der Welt suchen muss und dabei lernt, dass es als einzelnes Land mit mehr unangenehm­en Begehrlich­keiten zu kämpfen hat als der 450Million­en-Einwohner-Markt EU, kann Angela Merkel ihren zweiten und letzten Ratsvorsit­z beruhigt in die Hände der portugiesi­schen Nachfolger legen.

In drei Tagen beginnt die neue EU-Zeitrechnu­ng. Diesmal wirklich ohne die Briten.

W

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria