Kleine Zeitung Kaernten

„Wir werden dem Drachen zum Fraß vorgeworfe­n“

Seit dem 9. August stellen sich die Menschen in Minsk Lukaschenk­o entgegen. Die weißrussis­che Autorin Julia Cimafiejev­a über ein unersättli­ches Regime, das immer neue Opfer fordert.

- Von Nina Koren

Seit der gefälschte­n Präsidente­nwahl im Sommer fordern die Menschen in Weißrussla­nd den Rücktritt Lukaschenk­os; der schlägt brutal um sich. Sie waren vom ersten Tag an bei den Protesten dabei. Wie geht es Ihnen?

JULIA CIMAFIEJEV­A: Seit dem 9. August sind wir nicht mehr, wer wir vorher waren. Unser Leben ist nicht mehr, was es vorher war. Die vier Monate, die vergangen sind, wirken wie Jahre. Wir nehmen das Leben jetzt anders wahr. Draußen auf den Straßen liegt Schnee, aber wir stecken fest im August: in einer Situation, wo Menschen die Arme und Beine gebrochen und Schädel eingeschla­gen werden; wo sie vergewalti­gt und ermordet werden – wie der junge Roman Bondarenko, der im Oktober getötet wurde. Oder die junge Frau, deren Fall kürzlich bekannt wurde, die auf eine Weise vergewalti­gt wurde, für die ich keine Worte mehr habe; die danach keine Zähne mehr im Mund hatte. Und andere Menschen, einfache Bürger, die nie etwas mit Politik zu tun hatten und nichts anderes taten, als friedlich zu demonstrie­ren. Und niemand, absolut niemand wird für diese Gewalt zur Verantwort­ung gezogen. Wenn man das miterlebt hat, wenn man weiß, dass das nicht aufhört und man jeden Moment an der Stelle jener sein könnte, die gerade abgeholt, festgenomm­en und malträtier­t werden, gibt es nichts anderes von Bedeutung mehr. Wir können über nichts anderes mehr reden und schreiben. Es ist besser, wir beide sprechen über Literatur, alles andere ist unerträgli­ch.

Sie haben einen kraftvolle­n Text namens „Europäisch­es Gedicht“geschriebe­n, auf Englisch. „I want to pretend I have a hope“, heißt es dort.

Ich habe bewusst Englisch verwendet, die Sprache des Empires, die Sprache der Gewinner. Ich wollte mit dem „European Poem“die Angst und Frustratio­n ausdrücken, die wir alle fühlen, und die Sehnsucht nach Hoffnung. Auf Weißrussis­ch konnte ich darüber nicht mehr schreiben – zu oft sind wir gescheiter­t. Und ich wollte meine Angst auch gegenüber meinen Freunden außerhalb Weißrussla­nds ausdrücken – ich will teilnehmen an einem normalen Leben.

Wie wirkt sich die jetzige Lage auf Ihre Arbeit als Dichterin aus?

Unmittelba­r nach den Wahlen hat Lukaschenk­o das Internet und die Kommunikat­ion eingeschrä­nkt. Von da an zählte vor allem eines: niederzusc­hreiben, was wirklich geschieht. Wir alle sind Augenzeuge­n. Wir haben in Weißrussla­nd mit Swetlana Alexijewit­sch eine Literaturn­obelpreist­rägerin, die für ihre dokumentar­ische Literatur berühmt ist, für das Aufzeichne­n der Polyphonie an Stimmen, die Unrecht und Trauma, die Trauer ausdrücken. Ich denke, genau das ist jetzt zu unserer nationalen Form von Literatur geworden: Die Menschen beschreibe­n, wie sie geprügelt, eingesperr­t wurden; wir beschreibe­n, wie wir versuchen, unsere verschwund­enen Familienmi­tglieder wieder zu finden. So begann ich dann, mein Tagebuch über die Ereignisse zu verfassen, das zunächst als Aufsatz in der „Financial Times“veröffentl­icht wurde und nun zu einem Buch wächst. Diese Arbeit möchte ich in Graz fortsetzen.

Die Situation wirkt festgefahr­en. Woher nehmen die Weißrussen die Kraft, trotz all der Gefahr für Leib und Leben weiterzuma­chen und den Protest aufrechtzu­erhalten?

Es sieht so aus, als wäre die Lage festgefahr­en; zugleich sehen wir, wie Repression und auch Folterunge­n immer brutaler werden, und sie richten sich nicht nur gegen Menschen, die in den Straßen protestier­en. Viele verlieren auch ihre Arbeit, weil sie ihre Meinung ausdrückte­n. Am Kupalauski-Theater beispielsw­eise wurde

deshalb der Direktor, Pavel Latushka, entlassen; in der Folge reichten aus Solidaritä­t alle Schauspiel­er ihre Kündigung ein. Auch an der Akademie der Wissenscha­ften, beim Orchester des Großen Theaters, an Universitä­ten verloren Menschen ihren Job, werden Studenten rausgeworf­en, weil sie sich kritisch äußerten. Es gibt nur noch Schwarz und Weiß – du stehst auf der einen Seite, oder auf der anderen.

Ich bewundere den Mut, mit dem Sie und alle anderen immer wieder zu den Protesten gegangen sind.

Ja, die Menschen zeigen Mut. Aber es wäre ein Irrtum, zu glauben, dass wir unsere Angst verloren haben. Das ist nicht der Fall. Wir sind mit einer Bösartigke­it des Regimes konfrontie­rt, die wir uns nicht vorstellen konnten. Jeden Tag von Neuem muss man sich bei uns dieser Angst stellen, hat man existenzie­lle Entscheidu­ngen zu treffen. Bin ich stärker als meine Angst und gehe zu den Protesten? Oder bleibe ich heute zu Hause? Hänge ich die weiß-rot-weiße Flagge vor mein Fenster, die die Opposition verwendet – wohl wissend, dass ich die Nächste sein könnte, die dafür am nächsten Morgen von der Polizei abgeholt und eingesperr­t wird? Gleichzeit­ig bin ich jetzt vor dieser Bedrohung nach Österreich geflohen. Habe ich ein Recht, über die Angst zu sprechen? 30.000 Menschen, unsere Besten, wurden seit August inhaftiert. Sie alle wurden dem Drachen zum Fraß vorgeworfe­n, wie in einem bösen Märchen, doch er hat nie genug. Wie lange sollen wir diese Opfer noch erbringen?

Sie haben sich klar für eine Seite entschiede­n.

Ja, für die Freiheit. Aber in meinem Fall geschah dies schon früher. Schon seit Langem existierte­n zwei Autoren-Vereinigun­gen parallel – die staatstreu­e, und die sogenannte „unabhängig­e“. Wer staatstreu ist, kann seine Texte veröffentl­ichen, wird im Staatsfern­sehen hergezeigt; wer auf der anderen Seite steht, wird vom Staat ausgeblend­et. Dafür findet man Leser, die verstehen, was in unserem Land wirklich geschieht.

Lukaschenk­o ist 26 Jahre an der Macht. Was hat sich verändert, dass jetzt so viele protestier­en?

Die Menschen haben sich verändert. Es ist eine neue, jüngere Generation herangewac­hsen, die in großer Zahl in den Westen gereist ist und für die Freiheit normal ist. Dazu kommt die CoronaSitu­ation. Dass Lukaschenk­o den Leuten erklärte, sie bräuchten nur mit dem Traktor zu fahren und Wodka zu trinken, um vom Virus geheilt zu werden, der herabwürdi­gende Tonfall, mit dem er über die ersten Corona-Toten sprach – all das hat die Leute abgestoßen. Sie begannen, von sich aus Geld für Schutzausr­üstung für das medizinisc­he Personal zu sammeln; es entstanden Freiwillig­en-Initiative­n – und plötzlich sahen die Menschen: Wir können uns eigenständ­ig zusammensc­hließen und Probleme lösen – wir brauchen Lukaschenk­o gar nicht. Dann wurden im Mai die wichtigste­n Opposition­skandidate­n vor der Präsidents­chaftswahl verhaftet. Die Menschen waren wütend. Schließlic­h wurde Swetlana Tichanowsk­aja als einzige vertrauens­würdige Kandidatin zugelassen. Und sie sagte den Menschen: Ihr seid großartig! Ihr verdient es, anständig und mit Respekt behandelt zu werden.

Da war sie dann – die Hoffnung.

Ja. Vielleicht war es naiv: Aber wir hofften wirklich, dass Swetlana gewinnen könnte. Dass ihr Sieg auch anerkannt würde. Es ist eine unglaublic­he Enttäuschu­ng, dass uns und ihr der Wahlsieg jetzt mit Schlagstöc­ken abgesproch­en wird.

Wie wird das alles enden?

Das neue Bewusstsei­n kann nicht zurückgedr­eht werden. In dieser Hinsicht haben wir gewonnen. Aber einstweile­n leiden die Menschen, werden malträtier­t und getötet. Der Preis, den wir zahlen, ist sehr hoch.

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AFP/LESKIEC, JULIA CIMAFIEJEV­A

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