Das „Zerrissene“ hat sich gemausert
Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges war die Region, die Osttirol ausmacht, nie eine geschlossene Einheit. Das ist bis heute, wo der Bezirk recht gut dasteht, spürbar.
Vermögende Herzöge, prächtige Burgen, pulsierendes Marktleben, reiche Kulturleben: Was in anderen österreichischen Bezirken zur Entwicklung beigetragen hat, ging an Osttirol großteils vorüber. Die Geschichte herauf gab es in der Region mehr Trennendes als Einendes. Im Zuge Völkerwanderung kämpften Bajuwaren und Slawen um Vorrechte. Damals gehörte man zu Karantanien, sprich Kärnten. Während der Christianisierung teilten sich das Erzbistum Salzburg, das Kloster Innichen und das Patriarchat von Aquileia die Region. Im Hochmittelalter wurde Osttirol zu einem Großteil der Grafschaft Görz unterworfen. Paroli bot ihr wiederum
das Erzbistum Salzburg. Das Görzer Gebiet wurde nach 1500 durch Kauf von Kaiser Maximilian Teil der Grafschaft Tirol. Wesentliche Gebiete befanden sich als geistliche Territorien aber wieder in der Hand anderer Mächte – in der des Hochstiftes Brixen und des salzburgischen Pfleggerichtes WindischMatrei. Die „kleine Eiszeit“minimierte die landwirtschaftlider
chen Erträge stark. Davon erholte sich die Region erst wieder im 18. Jahrhundert.
Der Beginn der Industrialisierung war in Osttirol so gut wie nicht spürbar. Es gab kaum Arbeit. Viele mussten den Bezirk verlassen. Einen ersten wirtschaftlichen Schub gab es 1871 durch den Bau der Pustertalbahn. Die Region ging für den auf. Sonst lebten die Menschen von Gast- und Baugewerbe. 1920, nach der Abtrennung Südtirols von Tirol, erhielt Osttirol seine endgültigen Grenzen und seine Größe von 2020 Quadratkilometern. 1938 gab es wieder eine Zerreißung: Der Kreis Lienz (Osttirol) wurde dem Gau Kärnten zugeteilt. Beruhigung trat nach der Rückführung zu Tirol ein.
Insgesamt waren die Menschen der Region in ihrer Geschichte ständig hin- und hergerissen. Stabilität und damit Entfaltungsmöglichkeiten gab es kaum. Und das ist bis heute spürbar. Immer noch sehen sich die Osttiroler als Stiefkinder des Mutterlandes Tirol, von dem der Bezirk abgetrennt ist. Und immer noch dümpelt der Bezirk in Statistiken am hinteren Ende – bei der Kaufkraft, bei der Höhe der Einkommen, bei der Wertschöpfung oder bei den Arbeitslosenzahlen. Seit 2015 ist die Arbeitslosenquote von 10,2 Prozent auf 6,5 Prozent zurückgegangen.
Vor 40 Jahren hat sich die Firma Liebherr in Lienz niedergelassen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten entstanden in Osttirol zahlreiche Industriebetriebe und Produktionsunternehmen wurden ausgebaut. Insgesamt 28 Industriebetriebe gibt es inzwischen. Wichtige Arbeitgeber sind auch Handel und Gewerbe. An die 21.000 unselbstständig Erwerbstätige geTourismus hen im Schnitt im Bezirk einer Arbeit nach. Aber nicht für alle gibt es in der Heimat zu tun. Heute wie vor 200 Jahren müssen viele Menschen zur Arbeit außerhalb des Bezirks. An die 2000 Osttiroler pendeln wöchentlich aus dem Bezirk aus. Stark leidet Osttirol unter Abwanderung und Geburtenrückgängen. Vom Höchststand von 50.400 Einwohnern Anfang der 2000er-Jahre sackte die Zahl auf 48.700 ab. Und heute wie vor 200 Jahren sind der Tourismus und das Baugewerbe wichtiger Arbeitgeber. 3000 Unternehmen sind registriert. Es wird stark auf Bildung gesetzt – mit der Schul- und Universitätsstadt Lienz. Ein Bildungsschwerpunkt ist Mechatronik. Erst in den vergangenen Jahren war so etwas wie Aufschwung zu spüren. Der Bezirk schaffte es beispielsweise im Zukunftsranking 2020 aller österreichischen Bezirke auf das Podest. Wissenschaft, Innovation und Gründungsdynamik erzielten Bestnoten. Dazu beigetragen hat der Prozess Vordenken im Jahr 2013.
Im Tourismus lagen die Jahresnächtigungen zuletzt bei mehr als zwei Millionen. Hier profitiert Osttirol von seiner Naturlandschaft, die erhalten wurde – durch eine Zerreißprobe zwischen Energiewirtschaft und Naturschutz, zwischen Befürwortern und Gegnern in der Bevölkerung, als es um den Bau des Dorfertalkraftwerkes ging. Die Natur trug den Sieg davon.