Erkenne dich selbst
Theologe und Psychotherapeut iermal, berichtet die Bibel, wird der junge Sámuel aus dem Schlaf gerissen, hört seinen Namen rufen und läuft zu seinem Lehrer. Dieser aber trägt ihm auf, sich wieder schlafen zu legen. Das wiederholt sich dreimal. Dann begreift der junge Sámuel, dass die Stimme, die er hört, nicht von außen, sondern aus seinem Innersten kommt. „Wer Stimmen hört, braucht einen Psychiater“, mag ein aufgeklärter Zeitgenosse denken.
Aber Schlaf und Traum und die damit verbundenen Stimmen von innen gelten seit jeher in allen Kulturen als bevorzugte Orte sinnstiftender Gotteserfahrung. Weit über hundert Mal erzählt auch die Bibel davon. Aber eine seit dem 2. Jahrhundert nach Christus nach und nach wachsende welt- und leibfeindliche Theologie glaubte, ohne diese Erfahrungen auskommen zu können. Zu sündhaft erschien ihr die Beschäftigung mit den nächtlichen Triebstürmen der menschlichen Seele. Und so bedurfte es der Wiederentdeckung des Unbewussten durch den Vater der Psychoanalyse im Jahre 1898. In seinem Versuch, auf die uralte Aufforderung „Erkenne dich selbst!“eine Antwort zu finden, war Sigmund Freud überzeugt davon, dass der Schlaf und die Träume die „Königsstraßen“zur Selbsterkenntnis
Vsind. Er nennt sie auch „Briefe aus dem Unbewussten“mit Botschaften, die in besonderen Entwicklungsphasen oder Krisensituationen wichtig und im besten Sinn des Wortes „lebensnotwendend“sind. Freud ist überzeugt, dass dort, wo die Dynamik des Unbewussten nicht bedacht wird, es zu chronischen Missdeutungen des Lebens kommen muss. Die Kunst, die Stimme des Innersten wahrzunehmen, ist seither nicht nur die Grundübung praktizierter Spiritualität, sie ist auch die Grundmelodie therapeutischer Aufmerksamkeit.
In beiden Bereichen gelingen mit etwas Glück „Selbstgespräche“, in denen – religiös formuliert – Gott als die innerste Stimme des Menschen vernehmbar wird. Und weil, wie der Psalmist sagt, Gott diese Erfahrung seinen Freunden „im Schlaf “(Ps 127) gibt, lockt Eli seinen Schüler Sámuel in die Stille des Tempels, um dort die Frage zu klären, was aus seinem Leben werden soll, welches Potenzial in ihm schlummert. Damit bietet der Meister seinem Schüler den einzig relevanten Liebesdienst, den Religion einem Menschen zu leisten vermag. Das aber kann nur gelingen, wenn dabei Gott als „Partner unserer intimsten Selbstgespräche“(Viktor Frankl) erfahrbar wird.
17. JÄNNER 2021