Die Worte sind frei, der Käfig ist offen
Sie sprach nicht nur mit Worten, sondern auch mit ihren Händen, mit ihren Augen, mit ihrem Gesicht, ihrem gesamten Körper. Ihre Gestik und Mimik, der rhythmische Flow ihrer Stimme haben ihre Poesie zum Leben erweckt, ihr Flügel verliehen. Und auch die Herzen der Menschen flogen Amanda Gorman zu, als sie bei der Inauguration von Joe Biden ihr Gedicht „The Hill We Climb“vortrug. Ihr Auftritt erinnerte an die Kunstform des „Poetry Slam“. Doch die 22 Jahre alte Harvard-Absolventin, die lange Zeit an einem Sprachfehler litt und Zuflucht beim geschriebenen Wort suchte und fand, hat nicht geslammt, nicht blindlings hingeschlagen. Vielmehr legte sie mit anmutigem Selbstbewusstsein behutsam, aber punktgenau ihre Finger auf Wunden, alte und neue, beließ es aber nicht bei der ernsten Diagnose, sondern fand auch Worte der Hoffnung und Zuversicht für den Heilungsprozess.
Amanda Gormans Gedicht – unterlegt mit zahlreichen biblischen Bildern – war keine bittere Anklage, sondern ein lyrisches Abwägen: Was steht auf der Habenseite, was auf der Sollseite ihres Landes? Amanda Gorman hat auch kein jugendlich ungestümes „Ich will!“in die Welt hinausgerufen, sondern ein reifes, austariertes „Wir können!“. Sie weiß um die Verletzlichkeit und Unzulänglichkeit von Menschen und politischen Systemen, um „eine Nation, die nicht kaputt ist, sondern einfach unvollendet“. Sie war konkret, ohne Trump zu nennen: „Wir haben dem Bauch der Bestie getrotzt.“Und Amanda Gorman hat eine Vision, die keine mehr bleiben muss; davon, dass „ein dünnes, schwarzes Mädchen, das von Sklaven abstammt und von einer alleinerziehenden Mutter großgezogen wurde, davon träumen kann, Präsidentin zu werden.“
The Hill We Climb“. Der Hügel, den es nicht nur in den USA zu erklimmen gilt, ist trotz neuer Perspektiven eher ein Bergmassiv. Aber mit jungen, mutigen Menschen wie Amanda Gorman, die ihr Herz nicht nur auf der Zunge trägt, sondern auch im Kopf, könnte der Aufstieg gelingen. Am Mittelfinger ihrer rechten Hand trug sie übrigens einen Ring, der einen Vogel im Käfig darstellt. Jetzt steht die Tür offen.