„Ich vermisse meinen Anker“
Heute singt Pretty Yende in der Wiener Staatsoper „La Traviata“, der ORF ist mit dabei. Ein Gespräch über leere Säle und das Gute am Menschsein.
Sie werden die Premiere vor einem leeren Saal singen. Wie geht es Ihnen damit? PRETTY YENDE: Ich fühle mich so, als hätte ich meine Mitte verloren, ich vermisse meinen Anker. Das Publikum ist mein Anker, und der Austausch während der Aufführung macht unseren Beruf so besonders. Das Theater ist ein spezieller Ort, wo man gemeinsam mit anderen auf eine Reise ins Ungewisse geht. Wenn es kein Publikum gibt, bin ich nicht geerdet, meine Emotionen gehen in einen leeren Raum. Aber: Als darstellende Künstlerin ist man es gewohnt, mit neuen Situationen umzugehen, und ich bin außerordentlich glücklich, überhaupt die Möglichkeit zu haben, Musik zu machen. Man muss Freude haben und einfach daran denken, dass zwar niemand da ist, aber Tausende Leute an den Bildschirmen in ihren Wohnzimmern sitzen und diese Energie empfangen können.
Sie singen Verdis Traviata, was halten Sie von der Figur?
Sie tut mir wahnsinnig leid, sie hat Probleme, die ganz heutig sind. Wir leben in Zeiten, in denen von uns gefordert wird, uns anzupassen, in denen wir um Aufmerksamkeit bitten, wo wir nach außen Stärke zeigen müssen, obwohl wir in uns drinnen mit vielen Problemen kämpfen. Ich habe viel von der Traviata gelernt, weil sie eine so starke Frau ist. Sie zeigt in ihrem jungen Alter Weisheit, Intelligenz und Menschlichkeit. Sie ist bereit, sich für die Liebe und Familie aufzuopfern.
Wie kommen Sie mit dem Starregisseur Stone aus?
Großartig. Er ist ja auch Schauspieler, also weiß er genau, was ein Darsteller benötigt, um eine Rolle zu erschaffen. Er lässt den Darstellern viel Raum, er stört sie nicht, sondern vertraut darauf, dass sie zu ihren Rollen finden. Wenn er bemerkt, dass man Probleme bekommt, dann ist er immer da, um zu helfen. Er ist nicht der Typ, der sagt: „Der Charakter muss so und so sein“, er schreibt da nichts vor. Er stellt das Regiekonzept vor, und nachdem wir uns alle in dieses verliebt haben, können wir es selbst für uns entdecken.
Sie sind aus Südafrika, ein Land, über das wir relativ wenig wissen.
Könnten Sie beschreiben, wie Sie zur Oper gekommen sind?
Oper war mir fremd, bis ich die Werbung der British Airways hörte: Die haben das „Lakmé“Duett aus Léo Delibes’ Oper verwendet. Diese zehn Sekunden Musik veränderten mein Leben, es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Ich war zwar vorher auch lebendig, aber erst ab dort war ich wirklich, wirklich lebendig. Dass Menschen die Gabe haben, so etwas zu tun, schien mir fast übernatürlich. Ich verlangte von meinem Highschool-Lehrer förmlich, mir das beizubringen, weil ich überzeugt war, dass er das kann. Ich bin in einer liebevollen Familie aufgewachsen, meine Großmutter hatte
mir Kirchenhymnen beigebracht, also war ich überzeugt, dass ich das lernen könne. Zum Glück hatte ich auch Talent.
Heute singen Sie auf den wichtigsten Opernbühnen der Welt, was sind denn die Unterschiede?
Das sind wie unterschiedliche Charaktere. Eines der schönsten Dinge am Menschsein ist, dass wir extrem unterschiedlich sein können, uns aber dennoch verstehen und Beziehungen aufbauen können. Ich hatte das Glück, überall gut aufgenommen zu werden. Das New Yorker Publikum ist, als würde es einen Film anschauen: Da wird sofort reagiert, auch gelacht. In Wien und Paris ist man nicht so spontan. In Paris hat man mir gesagt, das Publikum sei besonders schwierig – ich war schockiert, dass es bei „Lucia di Lammermoor“nach der Wahnsinnsszene nach jeder Aufführung Standing Ovations gab.
Wie gehen Sie denn mit der Coronakrise um?
Es ist hart. Ich habe letztes Jahr in Paris die Manon gesungen, als alles zusperren musste. Damals war ich noch glücklich darüber, weil ich endlich wieder einmal zurück nach Südafrika konnte, um Zeit mit der Familie zu verbringen. Aber mit jeder Absage wurde die Sache verstörender und belastender. Sänger sind wie Sportler: Wir brauchen die Praxis, sonst verlieren wir unsere Muskeln.
Sie kommen vom Belcanto. Wie ist es, in die andere musikalische Welt Verdis einzutauchen?
Das Allerwichtigste ist die Technik, und daran darf ich nicht viel ändern. Wenn die Stimme bereit für eine neue Rolle ist, muss das auch gar nicht sein. Man lernt, wie man sich in einer neuen Rolle bewegt, man muss die Hürden kennen. Aber die Einstellung und der Zugang bleiben immer gleich. Verdi hat einen größeren Orchesterklang, da muss man sich auf die Technik verlassen können. Dirigent Giacomo Sagripanti kennt mich, er weiß, wie er mir helfen kann, und ich kann auf ihn bauen. Er ist ein Dirigent, der Sänger glänzen lässt.