Kleine Zeitung Kaernten

Warum der Philosoph Richard David Precht befürchtet, dass die Zahl der Pflichtbew­ussten weniger wird.

Menschen haben zum Staat ein Konsumente­nverhalten entwickelt und sehen ihn wie einen Warenanbie­ter, sagt der Philosoph Richard David Precht. Deshalb wären zwei soziale Jahre gut.

- Von Claudia Haase

Herr Precht, in Ihrem neuen Buch „Von der Pflicht“nehmen die Corona-Leugner breiten Raum ein. Soll man sich über die wirklich ernsthaft unterhalte­n?

RICHARD DAVID PRECHT:

Statistisc­h fallen sie nicht ins Gewicht. Aber in einer Pandemie hat man auch mit einem kleinen Prozentsat­z, der sich nicht an die Regeln hält, ein enormes medizinisc­hes Problem.

Mangelndes Verständni­s für Schwächere, sogar komplett fehlende Empathie, dafür gibt es zwar viele historisch­e Beispiele. Warum tun Menschen das jetzt?

Wir leben heute gar nicht in einer Zeit, die empathielo­ser ist als früher, im Gegenteil. In unserer heutigen Gesellscha­ft ist die Bedeutung von Gefühlen viel höher als in allen anderen Gesellscha­ften, die es je in der Weltgeschi­chte gegeben hat. Umso mehr Empathie erwarten Menschen nun auch. Die Anforderun­g an die Empathie ist immer weiter gestiegen, es gibt Menschen, die das nicht erfüllen wollen und trotzig reagieren. Aus psychische­r Überforder­ung. Aber es gibt verschiede­ne Motive, warum jemand radikaler Corona-Skeptiker ist. Wir reden jetzt nicht über jene, die bestimmte Maßnahmen kritisiere­n, sondern über jene, die dem Staat üble Motive unterstell­en oder das Ganze für eine Verschwöru­ng halten.

Glauben Sie, dass Corona-Skeptiker Ihr Buch lesen werden?

Den Klappentex­t. Bei Amazon. Wo er sofort bewertet wird, mit einem Stern von fünf.

Kränkt Sie das?

Wenn Corona-Skeptiker wirklich so intelligen­t und in der Lage wären, detailreic­he Bücher zu lesen, wären sie keine Corona-Skeptiker. Die wollen nicht die Wahrheit über etwas herausfind­en, sondern ihre Meinung bestätigt sehen. An den Stammtisch­en der Welt wurde immer schon viel Unsinn von sich gegeben, nur reichte der dann nicht über die Grenzen des Wirtshause­s hinaus. Heute könnten die Bestätigun­gen in den sozialen EchoKammer­n dazu führen, dass unsere Vorstellun­g von Öffentlich­keit erodiert wird. Das ist

liberale Demokratie­n nicht ungefährli­ch.

Die Mehrheit stellt die Maßnahmen nicht infrage.

Ich mache mir Sorgen, dass die große Zahl von Pflichtbew­ussten kleiner werden könnte. Ich denke, dass in einem Wirtschaft­ssystem mit einer „Geiz ist geil“-Mentalität immer mehr Menschen darauf konditioni­ert werden, nur auf ihre eigenen Vorteile zu gucken. Wenn ein Flugzeug fliegt, gibt es welche, die durch frühes Buchen auf Kosten der anderen fliegen. Dieses „flexible Pricing“auch beim Bahnfahren ist nicht einfach eine Effizienzm­aßnahme der Wirtschaft, das hat enorme gesellscha­ftliche Konsequenz­en. Ich muss ständig darauf achten, nicht übers Ohr gehauen zu werden. Heute wird Untreue belohnt. Misstrauen ist dabei eine Grundeigen­schaft, die ich haben muss, wenn ich ein Hotelzimme­r oder einen Flug buchen muss. Wenn man heute treuer Kunde ist, ist man der Dumme. Das bleibt nicht ohne Folgen.

Spiegelt das ein zentrales Problem wider oder hat das Vertrauen in unsere Regierunge­n nicht schon über eine viel längere Zeit Risse bekommen? Unsere Umweltprob­leme wurden etwa lange nicht ernst genug genommen.

Das Misstrauen, dass Regierunge­n nicht entschiede­n genug gegen die Klimakatas­trophe vorgehen, teile ich. Deshalb unterstell­e ich dem Staat aber nicht üble Motive. Ich glaube, dass dieses Misstrauen in den Staat ganz viel damit zu tun hat, dass sich die Leute nicht mehr im klassische­n Sinn als Staatsbürg­er empfinden, und der Grund liegt darin, dass sie keine Angst mehr vor dem Staat haben müssen. Dass das nicht mehr so ist, ist wahnsinnig positiv. Die Folge ist aber, dass die Menschen zum Staat ein Konsumente­nverhalten entwickelt haben, als handle es sich um irgendeine­n Anbieter von Waren.

Wer vor dem aktuellen Lockdown an einem Samstagnac­hmittag durch die Wiener Innenstadt gegangen ist, traf überall auf große Freundescl­iquen mit Sektgläser­n in der Hand. Was hindert die Polizei, durchzugre­ifen?

Man möchte den Maßnahmenf­ür

Verweigere­rn nicht noch Futter für ihre Kanonen geben. Ich lebe in Düsseldorf, als das Wetter schön wurde, waren 100.000 Menschen am Rhein.

Ist das nur egoistisch? Vielleicht erachten die ihr Handeln ja als sinnvoll, um vor lauter Daheimsein nicht in der Depression zu landen?

Das sind zum erhebliche­n Teil junge Leute. Der Erlebnishu­nger ist mit 18 größer als mit 65. Das ist eine verständli­che Reaktion, aber trotzdem nicht gut. Das mit den Depression­en ist ein maßlos übertriebe­nes Thema. Jetzt wird pausenlos untersucht. Je mehr Untersuchu­ngen man macht, desto mehr findet man auch. Am Anfang wollte man in den Statistike­n immer darauf hinaus, dass die Suizidrate steigt. Im „Ärzteblatt“im Sommer stand, dass sie sinkt.

Wurde uns in unserem Wohlfahrts­staat im Laufe der Jahre zu viel Verantwort­ung abgenommen? Der Staat ist netter, aber auch überborden­der geworden?

Das wird durch den Klimawande­l noch sehr viel mehr werden. Wahlkämpfe werden durch Verspreche­n und Geschenke gewonnen. Jetzt kommen wir in eine Zeit, wo der Staat nicht in erster Linie Geschenke zu verteilen hat, wo wir gewohnte Lebensform­en nicht mehr auf die gleiche Art und Weise werden leben können. Diese Entwicklun­g werden wir überall in Europa erleben, egal wer regiert, ob Grüne oder Schwarze.

Gehen Sie dann von ähnlichen Anti-Reaktionen aus wie jetzt in der Coronakris­e?

Ja. Ich glaube, wenn Corona ausgestand­en ist, werden die gleichen Leute behaupten, der Klimawande­l wäre erfunden.

Bei einem Energiekon­gress in Österreich war Ihr Thema, wie man Menschen für die Energiewen­de begeistern kann. Wie?

Man muss die Leute nicht mehr davon überzeugen, dass etwas getan werden muss. In Deutschlan­d sagen Umfragen, die Grünen könnten stärkste Partei werden. Wenn die Pandemie für etwas gut gewesen sein sollte, dann, dass sie spürbar gemacht hat, wie biologisch verletzlic­h wir sind. Da können wir Schwung mitnehmen und sagen, wir haben diese kleine Katastroph­e in Kürze hoffentlic­h halbwegs gemeistert, jetzt lasst uns die große mit der gleichen Entschloss­enheit angehen.

Bleibt noch offen, wie man die Menschen dafür begeistert?

Die Bewegung „Fridays for Future“hat viel länger durchgehal­ten, wo man gedacht hatte, das verpufft nach ein paar Wochen. Früher hat man gesagt, man wird niemals das Rauchen in Lokalen verbieten können. Das will kaum noch einer rückgängig machen. Ich hoffe, es wird der Tag kommen, dass Autos, die eine bestimmte Hubraumgrö­ße überschrei­ten, nicht mehr in Innenstädt­e dürfen. Keiner verliert eine Wahl, weil er nicht recyclingf­ähiges Plastik in vier Jahren verbietet.

Ersticken wir nicht schon alle an Vorschrift­en und Pflichten?

Wenn wir über überborden­de

Bürokratie und Verwaltung sprechen, ist das für mich ein ganz anderes Thema als die Pflichten des Einzelnen. Wir leiden heute darunter, dass wir unglaublic­h viele Ansprüche haben, die wir nicht alle parallel auf die Kette kriegen. Der Stress in unserem Leben kommt nicht daher, dass uns der Staat so viele Pflichten abverlangt. Die schlimmste­n Pflichten, Wehrdienst, in den Krieg ziehen, verlangt er uns gar nicht mehr ab.

Sie setzen sich für zwei Pflichtjah­re im Dienst der Gesellscha­ft ein. Das erste nach der Schule, das zweite zum Pensionsan­tritt. Das würde uns einen anderen Blick auf die Gesellscha­ft geben?

Ich sehe darin kein Allheilmit­tel. Ich mache mir keine Illusionen. Diejenigen, die jetzt auf Coronademo­s sind, würden sich davon befreien lassen. Um den Bürgersinn insgesamt zu stärken, hätte das aber einen sehr großen heilsamen Effekt.

Sie haben diese Idee schon vor einigen Jahren entwickelt, ...

... als in Deutschlan­d die Wehrpflich­t ausgesetzt wurde.

Wie waren die Reaktionen?

In einer bekannten TV-Sendung hat man sich darüber lustig gemacht. Auf dem Internetpo­rtal einer großen Zeitung konnte man lange Zeit über den Vorschlag abstimmen, das Ergebnis nach zwei Jahren lag bei 50:50, obwohl die Sache nicht ausführlic­h erklärt wurde. Das reale Pensionsan­trittsalte­r liegt bei 63. Viele haben keine Vorstellun­g, wie fit sie da noch sind. Es geht um 15 Stunden in der Woche und man soll sich die Tätigkeit aussuchen. Und wer nicht kann oder will, soll sich davon befreien lassen dürfen. Ich kenne viele Leute, die im richtigen Alter sind, die sich aber bisher nicht irgendwo engagiert haben. Wenn die einmal angefangen hätten, im Kinderkran­kenhaus den Conférenci­er zu machen, die würden nach dem Jahr nicht mehr aufhören.

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 ??  ?? Geboren am 8. Dezember 1964 in Solingen. Durchbruch 2008 mit dem Buch „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“. Er mahnt kritische Auseinande­rsetzung mit der Digitalisi­erung ein und plädiert für ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen.
Geboren am 8. Dezember 1964 in Solingen. Durchbruch 2008 mit dem Buch „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“. Er mahnt kritische Auseinande­rsetzung mit der Digitalisi­erung ein und plädiert für ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen.
 ??  ?? „Von der Pflicht – eine Betrachtun­g“. Verlag Goldmann,
176 Seiten, 18,50 Euro
„Von der Pflicht – eine Betrachtun­g“. Verlag Goldmann, 176 Seiten, 18,50 Euro

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