Das Spiel mit dem Risiko
Die Fußball-Euro war ein Ritt auf Messers Schneide, zwischen Vehikel zurück ins Leben und Superspreader. Und sie war voller Geschichten und einer großen Portion Pathos.
Was von dieser FußballEuropameisterschaft in Erinnerung bleiben wird, lässt sich am Tag nach dem Finale noch gar nicht wirklich sagen. Zu unscharf sind die Folgen, zu unklar ist, ob die Euro 2020 zum Pandemie-Treiber wurde oder doch die zumindest zwischenzeitliche Rückkehr in die Normalität markierte. So oder so war es ein Ritt auf Messers Schneide, ein Spiel mit dem Risiko, ein Grenzgang zwischen leichtfertigem Umgang mit einer Pandemie und dem Zelebrieren des kollektiven Gefühlsausbruchs.
Die Euro hat es zweifellos geschafft, begleitet von den regierungsseitig gelockerten Maßnahmen, die Menschheit ein Stück aus ihrer aufgezwungenen sozialen Isolation herauszuholen. Sie war legalisierter Rückfall in die Droge des kollektiven Erlebens. Insofern hat sich das Pressing des europäischen Fußballverbandes gelohnt. Schon im April, als von der Delta-Variante ebenso wenig die Rede war wie von Durchimpfungsraten und Inzidenz-Rückgängen, hatte man sich von Austragungsorten und -staaten zumindest anschaulich
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gefüllte Tribünen garantieren lassen – als Gegenleistung für das Gastspiel des Fußballtheaters um das Spiel mit der Kugel, die scheinbar doch für viele die Welt bedeutet.
Noch ist nicht heraußen, ob der, natürlich aus Eigennutz gestartete, Sturmlauf des Verbandes, der auch in London im Duett mit Premier Boris Johnson die Zuschauerzahlen auf immerhin 67.500 in die Höhe gebracht hat – nicht doch zum Eigentor wird. Präsident Aleksander Cˇ eferin schloss in einem Interview jegliche Verantwortung für ein Steigen der Zahlen aus und wertete etwaige hergestellte Zusammenhänge fast als blasphemischen Angriff auf die einigende Wirkung dieser Euro. Gut – die Folgen wird ohnehin nicht der Slowene ausbaden müssen, es wird wohl Premier Johnson sein, der sich seinem wiederholten Hang zum Risiko wird stellen müssen; wenn es nun in der Verlängerung doch noch danebengeht.
Was diese Euro noch gezeigt hat: Mannschaften mit Geschichte(n) haben auch Erfolg. Da waren zu Beginn die Dänen und deren Spielmacher Christian Eriksen, der schon im Eröffnungsspiel Fußball im wahrsten Sinne des Wortes zum Spiel auf Leben und Tod machte – und so eine Mannschaft mit ihrem Volk einte. In Österreich war es die Episode rund um Marko Arnautovic und dessen Sperre nach verbalem Foul, die Team, Trainer und Fans einte und zu einem ehrenvollen Aus gegen den Europameister führte. propos Italien: Nationaltrainer Roberto Mancini und sein englisches Gegenüber Gareth Southgate schafften ganz besondere Kunststücke: Beiden gelang es, ihre Mannschaften zu nationalen Herzensangelegenheiten zu machen, Botschaften zu senden, die über die Torauslinie hinausgingen, und mit ein wenig Pathos in offenen Briefen den vielleicht wichtigsten Beitrag zu liefern: die Gewissheit, dass es eine Zeit nach Corona gibt. Und dass diese durchaus schnell wieder Gipfelstürme liefern kann.
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