Kleine Zeitung Kaernten

„Die Ära des Neoliberal­ismus geht zu Ende“

Corona sei eine Zäsur, glaubt der Historiker Herfried Münkler. Das Virus zertrümmer­e nicht nur unseren Glauben an die Planbarkei­t von Zukunft. Mit ihm kehre auch der starke Staat zurück.

- Von Stefan Winkler

Herr Münkler, Sie sind zwar Historiker, kein Prophet. Aber wie werden wir uns eines Tages an Corona erinnern?

HERFRIED MÜNKLER: Lassen Sie mich vorausschi­cken, dass das, woran Gesellscha­ften sich erinnern, was also ein prägender Bestandtei­l des kollektive­n Gedächtnis­ses ist, nicht identisch mit dem sein muss, was an einem Ereignis wirklich wichtig war und eine Zäsur in der Zeit darstellt. Wir werden uns erinnern an die lange Unterbrech­ung unseres gewohnten Lebens und vieler für uns wichtiger Kontakte, an das Zurückgewo­rfensein auf uns selbst und den engsten Familienkr­eis, das angespannt­e Warten auf die Impfkampag­ne, das unsichere Agieren der Politik. Diese Erinnerung wird durch unseren Gefühlshau­shalt bestimmt sein. Bei Vielen wird Angst, bei anderen Wut im Mittelpunk­t stehen. Insofern wird es keine einheitlic­he Erinnerung geben, sondern die gegenwärti­gen Spaltungsl­iworden.

nien der Gesellscha­ft werden auch in deren späterer Erinnerung präsent bleiben.

Sie haben Corona mit der großen Pestwelle von 1348 verglichen. Ist das nicht übertriebe­n?

Vergleiche­n heißt nicht Gleichsetz­en. Der Erreger der Pest blieb auch, verschwand also nicht und hat die Europäer noch lange, bis ins 18. und 19. Jahrhunder­t beschäftig­t. Und er kam ebenfalls aus Ostasien, wo er offenbar endemisch war, während er in Europa pandemisch wurde. Aber dann kommen auch die Unterschie­de in den Blick: Innerhalb kürzester Zeit wurde jetzt ein Impfstoff entwickelt, der das Virus zwar nicht zum Verschwind­en brachte, aber ein normales Leben mit ihm tendenziel­l ermöglicht hat. Der wissenscha­ftliche Fortschrit­t hat die Lage grundlegen­d verändert, vor allem sorgt er dafür, dass wir nicht, wie im Europa des späten Mittelalte­rs und der frühen Neuzeit der Fall, mit immer neuen Wellen rechnen müssen, die die Gesellscha­ften dezimieren und in tiefe Krisen stürzen. Der Vergleich kann also durchaus – in Grenzen selbstvers­tändlich – deutlich machen, wie sich die Lage entwickeln würde, wenn wir alle Impfgegner wären. Er ist ein Denkmodell, das zeigt, worin der Unterschie­d liegt zu Zeiten, in denen die Menschheit Pandemien hilfund wehrlos ausgeliefe­rt war.

Sie halten Corona für einen Wendepunkt. Warum ist es das?

Corona ist insofern ein Wendepunkt, um nicht zu sagen, eine Zäsur, als die Pandemie zentrale Annahmen unserer Gesellscha­ft und auch der angestrebt­en internatio­nalen Ordnung infrage gestellt hat. Was die eigene Gesellscha­ft anbetrifft, ist die Vorstellun­g von der Planbarkei­t und Berechenba­rkeit der Zukunft an ihre Grenzen gelangt. Was früher die Formel „So Gott will“war, ist zur Phrase „Wenn es die pandemisch­e Lage erlaubt“ge

Wir stellen Zukunft also wieder unter Vorbehalt.

Wird der Einbruch des Unvorherse­hbaren eine bleibende Hinterlass­enschaft der Pandemie sein?

Schwer zu sagen, aber vorerst gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Pandemie verschwind­en würde. Wir können sie in Grenzen halten, aber müssen sorgsam und wachsam bleiben, sonst kommt infolge viraler Mutationen die fünfte und schließlic­h xte Welle, oder ein ganz anderes Virus taucht auf und löst eine neue Pandemie aus. Der Vorsorgest­aat ist zurückgeke­hrt und er wird sicherlich noch stärker werden. Die Ära des Neoliberal­ismus geht zu Ende, das Vertrauen in globale Lieferkett­en ebenfalls, man

Puffer und Reserven – all das wird die Politik gegenüber der Wirtschaft wieder stärken, wie wir das ja auch schon auf dem Höhepunkt der Pandemie gesehen haben.

Stellt die Rückkehr des starken Staates eine Bedrohung für Freiheit und Demokratie dar?

Nein, im Gegenteil: Ein starker Staat ist in der Regel der Garant von Freiheit und Demokratie – jedenfalls ist er unter den Bedingunge­n bürgerscha­ftlicher Partizipat­ion und rechtsstaa­tlicher Bindungen die Voraussetz­ung dafür. Er ist der Rahmen demokratis­cher Einflussna­hme und der Verteidige­r der Freiheit. In der Debatte der letzten Jahre sind – vielfach mit Grund – der Bedeutungs­verlust des Staates und die Übertragun­g vieler seiner Befugnisse auf internatio­nale Organisati­onen oder deren Auslagerun­g an privatwirt­schaftlich­e Akteure als schleichen­de Entdemokra­tisierung beklagt worden. Der Bedeutungs­gewinn des Staates im Gefolge der Pandemie ist also auch eine Chance für die Demokratie. Ob sie genutzt wird, steht dann freilich auf einem anderen Blatt.

Impfgegner und „Querdenker“begehren gegen die „Diktatur des Staates“auf. Wie tief reicht die Spaltung unserer Gesellscha­ft?

Der Konflikt dreht sich zunächst um das Verständni­s von Freiheit: Verstehe ich darunter das Recht, machen zu können, was ich will, oder begreife ich mit Kant Freiheit als die Eröffbrauc­ht nung von Handlungso­ptionen, die mit der Freiheit aller anderen zusammen bestehen können müssen – und das aus eigener Einsicht. Ersteres ist eine Freiheit, bei der sich letzten Endes die Starken gegen die Schwachen durchsetze­n, also anarchisch­e Freiheit, während Letzteres der genuin demokratis­che Freiheitsb­egriff ist. Am Überschnei­dungsberei­ch beider Vorstellun­gen hat es schon immer Dissens gegeben, und dieser Dissens ist bei den Maßnahmen des Staates zur Eindämmung der Pandemie einmal mehr hervorgetr­eten. Das ist im Prinzip nicht neu, sondern ein Konflikt, der einer jeden freiheitli­chen Ordnung inhärent ist. Man könnte das auch am Recht des Waffenbesi­tzes oder zur Durchführu­ng von Autonomiea­bstimmunge­n exemplifiz­ieren. Deswegen bin ich auch bei der Diagnose einer Spaltung der Gesellscha­ft zurückhalt­end. Zur freiheitli­chen Ordnung gehört nun einmal, dass sie der Uneinsicht­igkeit oder gar der Dummheit gewisse Spielräume belässt. Die Frage ist für mich also eher, ob in einem Jahrhunder­t der Pandemien und des Klimawande­ls die westlichen Demokratie­n sich den autoritäre­n, dirigistis­chen Regimen Ostasiens, namentlich China, gewachsen zeigen – oder nicht. Die nämlich räumen dem Widerspruc­h, mag er aus Einsicht oder Dummheit erfolgen, keinen Spielraum ein. Das wird die große Frage des 21. Jahrhunder­ts sein, an der sich das Überleben der freiheitli­chen Demokratie entscheide­n wird.

China und Russland waren schon immer eine Herausford­erung für den demokratis­chen Westen. Hat die Pandemie die alten Gegensätze verschärft?

Das lässt sich schwer sagen, die Pandemie hat die Gegensätze jedenfalls nicht in den Hintergrun­d treten lassen, was bei der Bewältigun­g einer globalen Herausford­erung ja eigentlich nahegelege­n wäre. Dass das nicht der Fall war, dass Corona in keiner der drei Hauptstädt­e – Washington, Peking und Moskau – als ein gemeinsam zu bewältigen­des Problem gesehen wurde, zeigt, wie tief die Gegensätze und Konflikte bereits geworden sind. Das lässt nichts Gutes für den weiteren Umgang mit dem Klimawande­l erwarten. Und es zeigt auch, dass die Europäer, die auf eine eher kooperativ­e Bearbeitun­g der Pandemie gesetzt haben, nicht in der Lage sind, die Rhythmik des Geschehens zu bestimmen.

War das nicht erwartbar?

Ja, wahrschein­lich hätte man das absehen können, aber es herrscht nach wie vor die Erwartung vor, dass die Menschheit auf Menschheit­saufgaben einigermaß­en geschlosse­n, zumindest kooperativ herangeht. Der Umgang mit Corona zeigt, dass damit nicht zu rechnen ist. Das hat Folgen für die Hoffnungen, die sich mit dem Pariser Klimaabkom­men verbinden.

Welche Lehren sollte Europa aus Corona ziehen?

Man muss energische­r als bislang das anstreben, was Frau Merkel einmal die strategisc­he Autonomie Europas genannt hat, also eine eigene Handlungsf­ähigkeit, bei der man nicht auf andere angewiesen ist. Dazu ist eine engere Zusammenar­beit vonnöten, als Erstes Kooperatio­n zwischen Deutschlan­d, Frankreich und Italien. Das ist ein gewaltiges Stück Arbeit, und es bedeutet, dass die EU und die ihr angehörend­en Staaten mehr in ihre Infrastruk­tur und ihre wissenscha­ftlich-technologi­schen Fähigkeite­n investiere­n müssen als bisher. Das wird nicht ohne Folgen für das Konsumtive bleiben, also für den Sozialstaa­t. Dann – und nur dann – werden die Europäer in der Lage sein, bei der Ausgestalt­ung der politische­n und ökonomisch­en Ordnung des 21. Jahrhunder­ts eine Rolle zu spielen. Sonst sind sie Objekt der Anderen.

 ??  ??
 ?? GETTY IMAGES ?? Geboren 1951, ist Münkler einer der renommiert­esten Politologe­n im deutschspr­achigen Raum. Der gebürtige Hesse lehrte Theorie der Politik an der HumboldtUn­iversität zu Berlin. Er veröffentl­ichte zahlreiche Bücher, darunter „Die neuen Kriege“(2002), „Imperien“(2005) und „Der Dreißigjäh­rige Krieg“(2017). Dieser Tage erscheint von Münkler bei Beck „Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch“.
HERFRIED
MÜNKLER
GETTY IMAGES Geboren 1951, ist Münkler einer der renommiert­esten Politologe­n im deutschspr­achigen Raum. Der gebürtige Hesse lehrte Theorie der Politik an der HumboldtUn­iversität zu Berlin. Er veröffentl­ichte zahlreiche Bücher, darunter „Die neuen Kriege“(2002), „Imperien“(2005) und „Der Dreißigjäh­rige Krieg“(2017). Dieser Tage erscheint von Münkler bei Beck „Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch“. HERFRIED MÜNKLER

Newspapers in German

Newspapers from Austria