Der Abstieg der Annalena Baerbock
Annalena Baerbock startete mit großen Hoffnungen in den Wahlkampf. Dass es nicht zu einem Sieg reicht, liegt nicht nur an ihr, sondern auch an den strukturellen Fehlern der Grünen.
Der Satz ging ein wenig unter: „Es ist für mich einer der zentralen Faktoren. Wenn wir nicht auf den 1,5Grad-Pfad von Paris kommen, dann macht es keinen Sinn für Grüne in eine Regierung reinzugehen“, sagte Annalena Baerbock im ersten TV-Triell Anfang September. Die Grünen stellten also schon einmal erste Bedingungen für eine Koalition. Ein möglicher Wahlsieger spricht so nicht. Mitten im Wahlkampf-Endspurt drehten die Grünen also schon bei.
Zum Beginn der Kampagne hatte das noch anders geklungen. Nicht nur bei Baerbock und ihrer Partei. „Die Frau für alle Fälle“, titelte der „Spiegel“. „Endlich mal anders“, jubelte die Illustrierte „Stern“. Das war im April. Die Grünen führten in den Umfragen mit 28 Prozent und zeigten sich selbstbewusst: Mit Annalena Baerbock, 40, hatte die Partei dann erstmals eine eigene Kandidatin für das Kanzleramt aufgestellt. „Ich trete an für Erneuerung. Für den Status quo stehen andere“, sagte die Hannoveranerin selbstbewusst.
Die Stimmung drehte sich schnell. Erst tauchten einige Unregelmäßigkeiten im Lebenslauf der Kandidatin auf, dann kopierte Stellen in ihrem Buch. „Ich habe mich tierisch geärgert“, sagte Baerbock. Sie sagte das so oft, dass es bald floskelhaft wirkte. Dabei wissen nicht nur Katholiken, dass zur Buße die aufrichtige Reue über die Untaten gehört. Es kam, wie es kommen musste. Die Zustimmungswerte schwanden, die Partei fiel auf Platz drei. Es wäre zu einfach, das alles bei Baerbock abzuladen. Zum einen liegen die Werte der Grünen in Umfragen gerne höher als das Ergebnis am Wahltag. Zum anderen plagen die Partei kräftige strukturelle Probleme. Das beginnt schon mit der Kandidatenauswahl: Baerbock und Grünen-Co-Chef Robert Habeck klärten die Kanzlerkandidatur persönlich. Eine Urwahl hätte die Sache besser und eindeutig geklärt. So lastete über dem Wahlkampf eine leidige Frage: Wäre Habeck nicht doch der bessere Kandidat gewesen? Er unternahm wenig, um die Lage zu beruhigen. In mehr als einem Interview tat er seinen Schmerz kund. Das ist menschlich. Doch
fiel auch das Stichwort „Frauenkarte“. Das schwächte die Kandidatin. Und die Partei mit.
Die Grünen sind kräftig gewachsen in den vergangenen Jahren. 110.000 Mitglieder zählt die Partei, die Strukturen haben sich aber nicht mitentwickelt. Einer Kampagne ums Kanzleramt war Grün nicht gewachsen. Das wurde vor allem auch in der medialen Antwort auf die Krisen der Kandidatin deutlich.
Nach den ersten Plagiatsvorwürfen missachtete die Partei selbst einfachste Grundsätze der Krisenkommunikation: offenlegen und beidrehen, um weiteres Unheil zu verhindern. Stattdessen hielt die PR-Abteilung medial dagegen. Das machte die Affäre nur noch größer. Die Sache änderte sich erst, als die Partei den Profi Michael Scharfschwerdt anheuerte, der erst bei den Grünen und dann in der Beratungsfirma von Ex-Außenminister
Joschka Fischer wirkte. Seither sind die meisten Standardfloskeln („tierisch geärgert“, „wegducken“) aus Baerbocks Wortschatz gewichen. Die Kandidatin spricht klar und (wieder) selbstbewusst. Das war zuletzt im dritten TV-Triell zu sehen. Baerbock trieb erst Armin Laschet („Ich frag mich, was mit Ihnen eigentlich los ist?“) in der Hartz-Debatte vor sich her, dann knöpfte sie sich Olaf Scholz in der Frage zur Finanzaufsicht seines Ministeriums vor. Manch einem Zuschauer wurde klar, warum Grün auf die Kandidatin Baerbock kam.
„Für einen Aufbruch braucht es eine grün geführte Regierung“, sagt die 40-Jährige fast trotzig. Das Wort Kanzlerin meidet sie lieber. Die Grünen sprechen jetzt wieder lieber über Klimapolitik als Kanzleramt. Sie verordnen dem Land radikalen Wandel, manchen Wähler überforderte das Reformtempo schlicht. Auch die Grüne-Empörungsrhetorik verstörte. Die Partei will regieren, sie muss endlich runter von den Barrikaden der Anfangsjahre.
Vor dem Wahlsonntag gibt es schon viel Gedränge für mögliche Kabinettsämter: Co-Chef Habeck ist gesetzt, Umwelt oder Finanzen (was auch Christian Lindner anstrebt). Cem Özdemir wäre ministrabel, doch sind auch die Linken in der Partei zu bedenken. So wird Özdemir auch als nächster Bundespräsident gehandelt. Oder Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Sie wäre die erste Frau an der Staatsspitze, er zwar der zweite Schwabe, aber der erste mit Migrationsgeschichte. Und Baerbock? Außen- statt Kanzleramt könnte es für die Völkerrechtsexpertin heißen. Dazu muss sie übermorgen aber ein passables Ergebnis liefern. Die FDP drängelt auf Platz drei in der Wählergunst.
Ein mieses Resultat würde die Partei auf Baerbock abwälzen. Doch macht sie es sich damit wieder zu einfach: Schon zu Beginn der Kampagne taxierten Experten die Partei zwischen 14 und 18 Prozent. Und Baerbock? Sie hat die Untiefen des Politgeschäfts leidvoll erfahren. Selbst nach Ergebnislisten von Juniorenmeisterschaften der in der Jugend erfolgreichen Trampolinspringerin beim Deutschen Turner-Bund wurde wegen möglicher Ungereimtheiten gefahndet. „Man beginnt ja nicht mit Doppelt- und Dreifachsalti, sondern mit einfachen Rotationen“, sagte ihre einstige Turntrainerin Dorothée Christlieb jetzt der „Süddeutschen Zeitung“. Und: „Immer vom Einfachen zum Schweren.“In der Politik hat sich Annalena Baerbock offenbar für den umgekehrten Weg entschieden.