Der ewige Patient wird zum Vorbild
Ab 15. Oktober werden in Italien die ohnehin schon rigorosen 3-G-Nachweise weiter verschärft. Das löst einen Impfboom aus.
Corso Magenta 71, Mailand: 9 Uhr. Vor den Pforten der Ursulinen-Volksschule drängen sich besorgte Mütter und Väter, um ihre Erstklässler zumindest zu Schulbeginn in ihr Klassenzimmer zu begleiten. Sie schrecken auch vor den langen Warteschlangen nicht zurück und bleiben geduldig, bis ihr QR-Code endlich bestätigt wird. Denn ohne den Green Pass geht in Italien gar nichts mehr. Sogar in meinem Stammcafé muss ich frühmorgens den auf meinem Handy verewigten Code zücken, um in den Genuss eines Cappuccino zu gelangen. Ganz zu schweigen von Fitnesszentren oder Schwimmbädern, von Kinos, Konzerten, Museen, Schnellzügen oder den Flughäfen, die ohne Green Pass nicht mehr zugänglich sind.
„Si Vax, No Vax, Free Vax“das sind die drei Slogans, um die sich alles dreht. Die große Mehrheit spricht sich in Italien für die Impfung aus. Jüngsten Regierungsberichten zufolge sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt 41 Millionen Menschen vollständig geimpft. Das sind etwa 75 Prozent der Bevölkerung der über 12-Jährigen. Sonderkommissar General Paolo Figliuolo will im Oktober 80 Prozent erreichen. Der Anteil der Nichtgeimpften wird im Landesschnitt mit 13 Prozent angegeben, weniger als sonst wo.
Zwar gibt es auch in Italien Protestkundgebungen gegen den sogenannten Impfzwang. So gingen in Triest gestern Tausende Impfgegner auf die Straße und auch in anderen großen Städten wie Rom, Mailand und Neapel gab es Demos. Der vom rechtspopulistischen Lega-Chef Matteo Salvini vorgeschlagene
Kompromiss „Free Vax“– jeder kann handeln, wie er will – findet in der breiten Öffentlichkeit allerdings kaum Echo. Selbst in Salvinis Regierungspartei stößt er auf taube Ohren.
Italien avancierte unter seinem Regierungschef Mario Draghi zum Musterland der Pandemiebekämpfung. Die bereits gegenüber anderen Ländern äußerst rigorosen Impfregeln sollen ab 15. Oktober noch einmal verschärft werden. Die geplante Ausweitung der im Bildungsund Gesundheitswesen gültigen „Grüne-Pass-Pflicht“hat
die Anmeldungen für Erstimpfung um über 20 Prozent steigen lassen. Wer kein gültiges Impfzertifikat vorweist, darf ab 15. Oktober nicht mehr arbeiten. Er wird freigestellt. Arbeitgeber, die auf eine Kontrolle verzichten, müssen ab 1500 Euro Strafe zahlen. Die Bestimmung trifft unter anderem für Behörden, Büros, Geschäfte und für Tourismus- und Gastronomiebetriebe zu.
Massimo Cacciari, Philosoph und ehemaliger Bürgermeister von Venedig, donnert: „Das ist gegen die Verfassung.“Diese sehe die Entscheidungsfreiheit des Individuums vor. „Das ist gegen die Ethik“, erklärte Cacciari in einer TV-Diskussion. Er selbst hat sich impfen lassen. Auch Oppositionsführerin Giorgia Meloni spricht von einem „verfassungswidrigen Wahnsinn“.
„In einer nationalen und weltweiten Notlage sind entsprechende Entscheidungen nötig“, lautet die Antwort der Regierung. Ministerpräsident Draghi vermeidet, die Impfpflicht per Gesetz einzuführen. Doch es gibt keine gültige Alternative dazu. Die Schnelltests oder PCR-Abstriche sind kurzfristig gültig und kosten Geld.
Im Gegensatz zu den vergangenen Monaten werden die Schulen im Fall von neuen Infektionen nicht geschlossen. Nur einzelne von der Corona-Pandemie betroffene Klassen können vorübergehend gesperrt werden. „Nach nahezu zweijährigen Lockdown-Maßnahmen atmen wir wieder auf, die Regierung will neuerliche Schließungen klar vermeiden“, bestätigte Lisa Jucca, Journalistin und Mutter von zwei halbwüchsigen Schülern. Italiens energischer AntiPandemie-Kurs zeigt bereits Erfolge. Die Anzahl der Neuinfektionen sinkt. Auch wird heuer ein Wachstum des Bruttonationalprodukts von über 6 Prozent, eines der höchsten im europäischen Umfeld, angepeilt. Der vom statistischen Amt Istat errechnete Verbrauchervertrauensindex kletterte im September auf einen Zwanzigjahresrekord von 119,6. Und zum ersten Mal seit Jahren planen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, in ihrem gemeinsamen Kampf gegen die Pandemie einen Sozialpakt zu gründen.