Das Ende eines Provisoriums
Nach dem Rückzug von Sebastian Kurz aus der Politik muss sich die ÖVP vom türkisen Politik-Modell lösen. Die Regierungsumbildung muss ein Abbild dieses Trennstrichs sein. Nur so gelingt der Neubeginn.
Mit 35 einen Lebensabschnitt zu beenden, wo andere gleichen Alters ihren ersten ins Visier nehmen, erinnert noch einmal an die Besonderheit des Phänomens Sebastian Kurz. Ein politisches Großtalent prägte ein Jahrzehnt die Spitzenpolitik und fand als Spielform eines modernen Konservativismus internationale Beachtung. Zu den Begabungen zählte der Instinkt für Schwingungen und die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge in einfachen Sätzen aufzulösen. Zu den tragischen Aspekten zählt das Bedauern, dass einer wie er nicht mehr aus seiner Popularität gemacht hat und zu oft den Erfolg um des Erfolgs willen suchte. Zum Staatsmännischen fehlte ihm der Wille, das Notwendige populär zu machen. Er wollte lieber das Populäre noch populärer machen. Reformkanzler wurde er keiner. Da blieb er unter den Erwartungen und den eigenen Verheißungen.
Seine Gegner unterstellen ihm eine inhaltsleere Programmatik. Das ist im Vorwurf schlampig. Das Konzept war durchdacht. Es bestand aus zwei Strängen: einer prononßenwelt
Sozialpolitik und einem restriktiven Kurs in der Zuwanderung. Der eine Pfeiler war eine Lehre aus der Ära Schüssel. Mit ihr höhlte Kurz die SPÖ aus, mit dem zweiten demolierte er den Markenkern der FPÖ und hielt sie vom Kanzlerthron fern. Das ist ihm ebenso gutzuschreiben wie das Herausführen des Landes aus der ewigen Wiederkehr Großer Koalitionen. An den erwähnten beiden inhaltlichen Koordinaten muss eine erneuerte ÖVP festhalten, will sie einer erstarkten SPÖ und einer geboosterten KicklFPÖ standhalten. Karl Nehammer wäre für beide Fronten ein Gewährsmann. arrieren wie jene von Sebastian Kurz erzählen immer auch die Geschichte von Aufstieg und Fall. Da ähneln sie Pop-Ikonen. Oft ist es der Rausch des schnellen Erfolgs, der zum Untergang führt. Dafür war Kurz zu selbstkontrolliert. Es ist kein Zufall, dass er nicht an der Macht scheiterte, sondern auf dem Weg dorthin, an der Wahl und Ruchlosig
Kkeit der Mittel. Das Bild, das sich in den Chats offenbarte, bildete mit dem Bild, das die Leute von ihm verinnerlicht hatten, einen verstörenden Kontrast. Auf den Loyalitätsschock folgte die Entfremdung. Der Einriss reichte tief hinein in bürgerliche Milieus. er Rücktritt war folgerichtig. Er gehorchte der Einsicht und einem intakten Wirklichkeitssinn. Der Abgang „zur Seite“, der Verzicht aufs Kanzleramt, war die glättende Formel eines Rückzugs, dessen zweiter Schritt jetzt vollzogen wurde. Der Rückzug in zwei Etappen war richtig. Wäre Kurz ausgeschieden, ein überquellender Revanchismus hätte sich in der Partei Bahn gebrochen und das Regierungsprojekt zu Fall gebracht. So aber dämpfte der Verbleib von Kurz das Verlangen nach Vergeltung. Das ändert freilich nichts an der Tatsache, dass die Steuerung vom Hinterstüberl aus ein Provisorium war. Wenn Kurz Videos aus dem kahlen Büro in der Parteizentrale an die Aucierten
Hubert Patterer
Dschickte, wirkten sie wie Botschaften aus dem Exil. Klubobmann und Parteichef war er nur auf dem Papier. In der einen Funktion, im Parlament, war er ein Unbehauster, in der anderen ein Geduldeter. Der Rückzug war ein Dienst an der Partei. Allein hätte sie sich aus dem Loyalitätskerker nicht befreit. ie ÖVP hat das Glück, dass sie mit Alexander Schallenberg keinen Machtversessenen hat. Er fremdelte in der Kanzlerrolle. Er kehrt zurück, wo er hingehört, ins Außenamt. Und noch ein Glück hat die ÖVP in ihrem existenziellen Schwebezustand. Sie kann vorerst an der Macht bleiben und sich dort finden. Die Therapiestation für solche Prozesse ist normalerweise die Opposition. Um dort nicht aufzuwachen, muss sie sich nach dem Rückzug des Idols vom türkisen Politikmodell lösen, vom Führen des Staates aus einer Clique heraus, von der Unterwerfungslogik und von einem Politikverständnis, das die Vermarktung über die Substanz stellt. Die Regierungsumbildung muss ein Abbild dieses Trennstrichs sein.
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