Virologische Auszeit
Erste Landeshauptleute wollen die Impfpflicht gar nicht erst scharf stellen. Fehlt die epidemiologische Grundlage, muss sie abgeändert werden. Das ist nicht ohne Risiko.
Noch ist nichts entschieden, aber es sieht so aus, als ob die Impfpflicht, die gerade erst in Kraft getreten ist, vorerst nur als Absichtserklärung das Licht der Welt erblickt – und die Sanktionsinstrumente, die jedes Gesetz sinnvollerweise unterfüttern, auf Eis gelegt werden. Bis auf Weiteres. Nach dem Kärntner Landeshauptmann Peter Kaiser hat nun auch sein Salzburger Amtskollege Wilfried Haslauer Zweifel angemeldet, ob Verstöße gegen die Impfpflicht tatsächlich ab Mitte März geahndet werden sollen – oder ob man lieber darüber hinwegsehen möge. Ein so tiefer Eingriff in die Grundrechte müsse dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit folgen und dürfe nicht überschießend sein, argumentieren die Landeshauptleute.
Beide haben im nächsten Jahr Landtagswahlen zu schlagen, die impfskeptische MFG sitzt nicht nur der FPÖ im Nacken, die gesellschaftliche Polarisierung nutzt keinem der beiden.
Allerdings ist die Forderung nach einer Amnestie an die Voraussetzung geknüpft, dass Omikron bald abklingt, keine weitere Variante um die Ecke biegt und sich die Lage in Normalund Intensivstationen entspannt. Man kann davon ausgehen, dass bald auch andere Landeshauptleute und Teile der Regierung auf den Zug aufspringen und dafür eintreten werden, dass das Gesetz nicht scharf gestellt wird – wahrscheinlich zum Missfallen des Gesundheitsministers.
Aus dieser Kehrtwende die Schlussfolgerung zu ziehen, das Vorhaben werde zu Grabe getragen und die Regierung habe Schiffbruch erlitten, ist ein Trugschluss. Das Gegenteil ist der Fall. Wird der Impfpflicht die epidemiologische Grundlage entzogen, muss das Projekt, das ist jedenfalls den gesetzlichen Bestimmungen zu entnehmen, abgeändert, ausgesetzt, allenfalls aufgehoben werden. Dies ist das genaue Gegenteil dessen, was die FPÖ „Impfdiktatur“nennt. Die Impfpflicht war immer nur Mittel zum Zweck. Für die ideologische Überhöhung sorgten deren Gegner.
Am Vorabend der Verhängung des vierten Lockdowns wurde das Gesetz aus der Not geboren – in der Hoffnung, das ewige Hin und Her zwischen Lockdown und Lockerung zu beenden. Dann kam Omikron, das uns rekordverdächtige Infektionszahlen, Impfdurchbrüche, allerdings eine entspanntere Lage in den Spitälern beschert hat. Selbst wenn Omikron vorbei ist und die Inzidenzen in den Keller fallen, ist die Gefahr nicht gebannt. Noch gibt es keine Garantie, dass wir wenigstens in diesem Sommer das Licht am Ende des Tunnels erblicken. Paradoxerweise wissen wir es wohl erst im November, ob der Spuk endgültig vorbei ist. Berlin geht auf Nummer sicher und hält an der Einführung einer Impfpflicht fest.
Zu hoffen ist, dass wir uns nicht in falscher Sicherheit wiegen – und uns dann im Herbst nicht die Rechnung präsentiert wird. Zweimal haben wir den Sommer verschlafen, ein drittes Mal würde unseren gesellschaftlichen Grundkonsens ins Wanken bringen.