Das Dystopische im Jetzt
Vor 49 Jahren kam „Soylent Green“ins Kino, vor 50 Jahren veröffentlichte der Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“. Wir sind angekommen in der Zukunft, die sie vorhersagten.
Als Kind, mit acht, höchstens neun Jahren, sah ich zu Hause auf VHS den Film „Soylent Green“. Ich war viel zu jung eigentlich, er ist erst ab 16 Jahren freigegeben, aber meine Eltern handhabten das locker. Seither habe ich ihn nie mehr angesehen, aber er hat Spuren hinterlassen, denn ich habe bis heute Bilder im Kopf. Und normalerweise vergesse ich gerne die Handlung von Filmen, aber in diesem Fall ist mir auch diese noch sehr präsent.
„Soylent Green“, 1973 erschienen, zählt zu den ersten Ökodystopien. Der Film spielt – aus damaliger Sicht – in mittelnaher Zukunft und in New York City. 40 Millionen Menschen leben in der Metropole, der Planet ist überbevölkert, die Lebensmittelproduktion kommt nicht mehr hinterher, die Ozeane sind leergefischt, alle natürlichen Ressourcen erschöpft. Eine korrumpierte Elite lebt und ernährt sich üppig, während sie die breite Masse gewaltvoll unterdrückt und deren Hunger notdürftig mit „Soylent Green“, ominösen grünen Chips, stillt.
Ich erinnere mich nicht an die schlimmen Szenen, die der Film laut Inhaltsangabe auch enthalten muss, etwa, wie das Militär Demonstranten mit Schaufelladern von der Straße entfernt. Aber ich erinnere mich daran, dass der Hauptdarsteller, ein Polizist, bei einer Frau, einer Privilegierten offenbar, am
Frühstückstisch sitzt und den Blick nicht abwenden kann von den Marmeladenresten, die noch an einem Teelöffel kleben. Ich habe die Not des Mannes empfunden, den herrschenden Mangel gespürt. atürlich ahnte ich damals als Kind nicht, dass der Film in die Kinos gekommen war, kurz nachdem der Club of Rome 1972 seinen wegweisenden Bericht „Die Grenzen des Wachstums“veröffentlicht hatte. Renommierte USInstitute hatten die Studie mit Hilfe von aufwendigen Computersimulationen erarbeitet. Die zentrale Schlussfolgerung lautete: „Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.“Alle zehn Szenarien, basierend auf unterschied
Nlichen Annahmen, ergaben, dass ein „Weiter so“zu massiven weltweiten Krisen führen würde. on diesem Bericht wusste ich nichts, ich ahnte jedoch, dass „Soylent Green“näher an der Realität dran war als andere Endzeitfilme, die ich damals ebenfalls schon sehen durfte, „Flucht ins 23. Jahrhundert“zum Beispiel. Ich kann nicht sagen, woraus sich diese Ahnung speiste. Sicher erfuhr ich vom Hunger in Afrika. Aber ich hielt es aus irgendeinem Grund für wahrscheinlich, dass Lebensmittel auch in unseren reichen Weltgegenden knapp und für zu viele Menschen unerschwinglich werden könnten. Im Gegensatz zu dystopischen Fiktionen, in denen wir in die Zukunft springen, entwickelt sich die Realität stetig. Wir landen nicht unvermittelt in ihr, sondern gewöhnen uns schleichend an sie. So lese ich im Frühsommer 2022 in der Zeitung, dass weltweit eine massive Nahrungsmittelknappheit droht und die Zahl der Menschen in Österreich, die auf Gratis-Lebensmittel von karitativen Ausgabestellen angewiesen ist, sprunghaft steigt. Schlagartig fällt mir ein, wie der deutsche Untertitel von „Soylent Green“lautete: „Jahr 2022 – die überleben wollen“. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.
Wir landen nicht unvermittelt in der Zukunft, sondern gewöhnen uns schleichend an sie.
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