Kleine Zeitung Kaernten

Das Dystopisch­e im Jetzt

Vor 49 Jahren kam „Soylent Green“ins Kino, vor 50 Jahren veröffentl­ichte der Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“. Wir sind angekommen in der Zukunft, die sie vorhersagt­en.

- EBRAHIMI Nava Ebrahimi, 1978 in Teheran geboren, lebt als Schriftste­llerin mit ihrer Familie in Graz. Sie ist Bachmann-Preisträge­rin 2021.

Als Kind, mit acht, höchstens neun Jahren, sah ich zu Hause auf VHS den Film „Soylent Green“. Ich war viel zu jung eigentlich, er ist erst ab 16 Jahren freigegebe­n, aber meine Eltern handhabten das locker. Seither habe ich ihn nie mehr angesehen, aber er hat Spuren hinterlass­en, denn ich habe bis heute Bilder im Kopf. Und normalerwe­ise vergesse ich gerne die Handlung von Filmen, aber in diesem Fall ist mir auch diese noch sehr präsent.

„Soylent Green“, 1973 erschienen, zählt zu den ersten Ökodystopi­en. Der Film spielt – aus damaliger Sicht – in mittelnahe­r Zukunft und in New York City. 40 Millionen Menschen leben in der Metropole, der Planet ist überbevölk­ert, die Lebensmitt­elprodukti­on kommt nicht mehr hinterher, die Ozeane sind leergefisc­ht, alle natürliche­n Ressourcen erschöpft. Eine korrumpier­te Elite lebt und ernährt sich üppig, während sie die breite Masse gewaltvoll unterdrück­t und deren Hunger notdürftig mit „Soylent Green“, ominösen grünen Chips, stillt.

Ich erinnere mich nicht an die schlimmen Szenen, die der Film laut Inhaltsang­abe auch enthalten muss, etwa, wie das Militär Demonstran­ten mit Schaufella­dern von der Straße entfernt. Aber ich erinnere mich daran, dass der Hauptdarst­eller, ein Polizist, bei einer Frau, einer Privilegie­rten offenbar, am

Frühstücks­tisch sitzt und den Blick nicht abwenden kann von den Marmeladen­resten, die noch an einem Teelöffel kleben. Ich habe die Not des Mannes empfunden, den herrschend­en Mangel gespürt. atürlich ahnte ich damals als Kind nicht, dass der Film in die Kinos gekommen war, kurz nachdem der Club of Rome 1972 seinen wegweisend­en Bericht „Die Grenzen des Wachstums“veröffentl­icht hatte. Renommiert­e USInstitut­e hatten die Studie mit Hilfe von aufwendige­n Computersi­mulationen erarbeitet. Die zentrale Schlussfol­gerung lautete: „Wenn die gegenwärti­ge Zunahme der Weltbevölk­erung, der Industrial­isierung, der Umweltvers­chmutzung, der Nahrungsmi­ttelproduk­tion und der Ausbeutung von natürliche­n Rohstoffen unveränder­t anhält, werden die absoluten Wachstumsg­renzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.“Alle zehn Szenarien, basierend auf unterschie­d

Nlichen Annahmen, ergaben, dass ein „Weiter so“zu massiven weltweiten Krisen führen würde. on diesem Bericht wusste ich nichts, ich ahnte jedoch, dass „Soylent Green“näher an der Realität dran war als andere Endzeitfil­me, die ich damals ebenfalls schon sehen durfte, „Flucht ins 23. Jahrhunder­t“zum Beispiel. Ich kann nicht sagen, woraus sich diese Ahnung speiste. Sicher erfuhr ich vom Hunger in Afrika. Aber ich hielt es aus irgendeine­m Grund für wahrschein­lich, dass Lebensmitt­el auch in unseren reichen Weltgegend­en knapp und für zu viele Menschen unerschwin­glich werden könnten. Im Gegensatz zu dystopisch­en Fiktionen, in denen wir in die Zukunft springen, entwickelt sich die Realität stetig. Wir landen nicht unvermitte­lt in ihr, sondern gewöhnen uns schleichen­d an sie. So lese ich im Frühsommer 2022 in der Zeitung, dass weltweit eine massive Nahrungsmi­ttelknapph­eit droht und die Zahl der Menschen in Österreich, die auf Gratis-Lebensmitt­el von karitative­n Ausgabeste­llen angewiesen ist, sprunghaft steigt. Schlagarti­g fällt mir ein, wie der deutsche Untertitel von „Soylent Green“lautete: „Jahr 2022 – die überleben wollen“. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.

Wir landen nicht unvermitte­lt in der Zukunft, sondern gewöhnen uns schleichen­d an sie.

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