Ein Haus aus einer anderen Welt
Im Grazer Priesterseminar bereiten sich derzeit zwölf junge Männer aus den Diözesen Graz-Seckau und Gurk-Klagenfurt auf ihre Weihe vor. Das einstige Jesuitenkonvikt ist ganz im Sinn seiner Gründer bis heute ein besonderer Ort der Andacht, des Lehrens und Lernens geblieben. Ein literarisches Porträt.
Was ist das Besondere an einem Haus wie diesem, dessen Grundstein vor bald einem halben Jahrtausend gelegt worden ist, einem Haus, das aus einer anderen Welt in unsere Gegenwart ragt, über das viele verschiedene Zeiten, Kriegs- und Friedenszeiten, Zeiten der Fülle und Zeiten des Mangels hinweggegangen sind? Was bestimmt sein Wesen, seinen Charakter, was macht es unverwechselbar? Seine Lage auf geschichtsträchtigem Boden mitten in der Grazer Altstadt, seine Art, sich organisch einzufügen in jenes historische Ensemble aus Burg, Dom, Mausoleum und Alter Universität, das man die „Grazer Stadtkrone“nennt?
Ist es sein mächtiger Grundriss, der den Vorübergehenden verborgen bleibt und erst aus der Vogelschau zu erkennen ist? Sind es seine architektonischen Besonderheiten, seine verborgenen Schönheiten, an denen es weiß Gott nicht arm ist – man denke nur an die Prunkstiege mit den Marienemblemen, den Barocksaal oder die modern gestaltete Hauskapelle mit den Glasfenstern von Rudolf Szyszkowitz, die auch an Regentagen in allen ihren Farben leuchten?
Ist das Besondere an einem
wie diesem seine Fähigkeit, gleichermaßen unsichtbar und unübersehbar zu sein, je nachdem, von welcher Seite und auf welche Weise man sich ihm nähert? Oder ist es einfach nur der Schatten, den es wirft im Wechsel der Jahreszeiten, das Licht und die Wärme, die von ihm ausgehen? Sind es die vielen verschiedenen Lebenswege, die zu ihm führen und die sich hier kreuzen? Die Geschichten, die sich darum ranken? Die verschiedenen Namen, die man ihm gab, die wechselnden Zwecke und Bedeutungen, die man ihm zuschrieb im Laufe der Zeit und weiterhin zuschreiben wird, die Aufgaben, die es zu erfüllen hat und denen es weiterhin nachkommt? Fragen, die sich unweigerlich stellen im Angesicht eines Hauses wie dem Grazer Priesterseminar.
Thorsten Schreiber, gibt darauf eine sehr bestimmte Antwort: „Besonders machen diesen Ort die Menschen, die da leben, beten, studieren und arbeiten, sowie auch alle jene, die als Gäste Einrichtungen und Veranstaltungen in diesem Haus aufsuchen. Besonders ist dieser Ort vor allem durch die Seminaristen, die vor der Entscheidung stehen, ob sie ihr Leben mit allen Konsequenzen in den Dienst
Sein Regens,
der Verkündigung des Evangeliums stellen.“
Vor eine Entscheidung stellt dieses Haus wohl einen jeden Menschen, der es betritt, um hier länger zu verweilen, und Entschiedenheit ist es, die aus dem Gefüge seiner Mauern spricht, Entschiedenheit im Glauben, im Denken, im alltäglichen Leben. Es ist eine Architektur, die den Bewohner wie den Besucher nicht zudeckt mit Zierrat, nicht eindeckt mit IlHaus lusionen, die den Blick nicht verstellt und vernebelt, sondern ihn öffnet, den Blick nach innen, um herauszufinden, wer man eigentlich ist, und den Blick nach oben, in den Himmel, der über der herrlichen Hofanlage des Hauses – einer Hofanlage, wie es sie in der Steiermark kein zweites Mal gibt – immer ein wenig größer erscheint als über der restlichen Stadt.
Steht man staunend in diesem Hof, nichts als den Himmel über sich, und lässt man das Auge wandern über die klare, schnörkellose Linienschrift der Fassaden – Doppelbogen um Doppelbogen, Zeile um Zeile, Stockwerk um Stockwerk – , so fühlt man sich an die Verse erinnert, die Rilke auf einen antiken Torso Apollos gemünzt hat: „Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht“. Genau so verhält es sich hier: Der Betrachter wird darin selbst zum Betrachteten; man schaut und
wird angeschaut, ganz gleich, ob man auf dem Grund des Hofes steht oder ob man von einem der Fenster etwa der oberen Stockwerke in seine Tiefe blickt, das Haus bekommt Gesicht und Stimme, genau wie der Torso im Gedicht von Rilke, der zu seinem Betrachter sagt: „Du musst dein Leben ändern!“
Ein Appell ganz im Sinne des Heiligen Ignatius von Loyola, dessen Orden dieses Haus gegründet und ihm sein Gepräge gegeben hat. Auch Ignatius hat sein Leben mit Anfang 30 von Grund auf geändert, wurde vom Ritter zum Bettler, von einer gescheiterten Existenz schließlich zum weltbewegenden geistlichen Lehrer. Die radikale Umkehr, die Erneuerung von innen her, das ist jesuitischer Geist, wie er in diesem Haus bis heute lebendig ist. Einst war es Teil jenes weltumspannenden Schulwerks, das der Orden geschaffen hat, ein Jesuitenkollegium unter vielen, heute ist es eines der letzten in Mitteleuropa, die noch weitgehend im Originalzustand erhalten sind.
Ein Ort des Lehrens und Lernens ist es geblieben, ein Ort des Suchens und des Findens, auf mannigfache Weise: In seinem dem Dom zugekehrten Osttrakt beherbergt es das Diözesanmuseum, das derzeit mit einer großen Ausstellung sein 90-jähriges Jubiläum begeht, in seinem obersten Geschoß ist das Diözesanarchiv untergebracht, beliebte Anlaufstelle für Heimatund Familienforscher aus allen Teilen des Landes, das Bildungsforum Mariatrost hält hier seine Seminare ab, der Domchor hat in einem anderen Trakt sein Probenstudio. Kurzum: ein Ort, um schöpferisch zu sein, ein Ort der Andacht und der Arbeit, der Mühe und der Freude – ganz im Sinne seiner Gründer.