Der diskrete Charme eines Grundeinkommens
ESSAY. Die Häufung von Krisen lässt wieder einmal den Ruf laut werden, den Sozialstaat neu zu denken. Kann ein Grundeinkommen Alleslöser für schwierige Gerechtigkeitsprobleme sein?
Der Kampf gegen Inflation mit seinen vielfältigen Maßnahmen gegen ihre sozialen Folgen, ebenso wie Entlastungen angesichts der individuellen Kosten von Klimapaketen bringen neue Anstöße zur Reform von Verteilungsund Sozialpolitik. Über die Berechnungen hinaus, wer wie viel bekommt und wie groß die Gesamtsumme an Hilfen ist, geht es um Fragen der Eigendynamik der Maßnahmen, der damit verbundenen Wirkungen und Anreize positiver wie negativer Natur, darum, wer die langfristigen Folgen der nicht unbeträchtlichen Ausgaben zu tragen hat, und nicht zuletzt, wie viel an Gerechtigkeit dadurch entsteht.
Im Kontext dieser Grundfragen von Sozialpolitik wird auch immer wieder das Grundeinkommen als ein radikaler Vorschlag zu ihrer Reform vorgebracht. Das darauf abzielende Volksbegehren im Mai hat immerhin knapp 170.000 Unterschriften bekommen, in der Schweiz wurden schon mehrfach dazu Volksabstimmungen durchgeführt (eine weitere Volksinitiative ist am Laufen). Die Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen ist ein gutes
Beispiel für die Ambivalenz und die Schwierigkeiten sozialpolitischer Reformen.
In seiner Grundkonzeption bedeutet es ein regelmäßig anfallendes, in Geld an Einzelpersonen (und nicht an Haushalte) ausbezahltes Einkommen für alle Mitglieder einer Gesellschaft bzw. eines Staates (wie immer definiert), unabhängig von sonstigem Einkommen sowie Vermögensbesitz – in diesem Sinn ist es „bedingungslos“. Dies heißt auch: nicht abhängig von der Bereitschaft zu arbeiten. Und wirft dadurch vielerlei Fragen von Fairness und Gerechtigkeit auf.
Sein Charme beruht gemäß seinen nicht wenigen Proponenten auf mehreren Gründen, wird über die aktuellen Probleme hinaus auch genährt von der schon länger andauernden Furcht vor einer Disqualifizierung und einem Verlust von Arbeit durch technischen Fortschritt in Form von Digitalisierung und Roboterisierung – ein Grundeinkommen könnte ein Kompensationsmechanismus für schwindende Remuneration durch Arbeit sein. Damit verbunden ist der Vorteil, dass bisher nicht bezahlte Arbeit
familiäre Pflege und Erziehung, …) abgegolten werden könnte. Von manchen wird es auch als Mittel angesehen, um endlich Freiheit von Arbeit zu erreichen, damit Freiheit von Zwang, Freiheit für alle. Nicht zuletzt ist damit die Hoffnung verbunden, dass das derzeitige komplizierte System eines sozialen Ausgleichs durch die Einfachheit eines ausbezahlten Grundeinkommens ersetzt wird (Milton Friedmans Konzept einer negativen Einkommenssteuer wird oftmals in diesem Zusammenhang zitiert). inter diesen Vorstellungen und Wünschen stehen große Fragen, sowohl ethischer als auch umsetzungsorientiert-politischer Natur:
HWie gerecht ist ein Grundeinkommen? Ist es Teil des bestehenden Sozialsystems mit progressiven Steuern und bestehenden Ver- und Absicherungen wie bei Arbeitslosigkeit, Unfall, Altersversorgung sowie vielerlei sachlichen Zuwendungen? Oder ersetzt es das bisherige Transfersystem zur Gänze? Selten wird diese grundsätzliche Frage angesprochen (wie beispielsweise bei der Abstimmung zum Grundeinkommen in der Schweiz vor einigen Jahren).
Davon abhängig ist natürlich das Ausmaß des ausbezahlten Grundeinkommens und damit seine Finanzierbarkeit: Dieses wird umso höher sein müssen, je mehr dadurch zu finanzieren ist. Ohne „begleitende“Dimensionen des bestehenden Sozi(Hausarbeit,
Das Grundeinkommen bleibt ein obskures Objekt der Begierde, gleichzeitig ein Paradebeispiel für die Schwierigkeiten einer am Ziel der Gerechtigkeit orientierten Sozialpolitik.
alsystems, die in den gängigen Vorstellungen eines (Netto-)Einkommens kaum Berücksichtigung finden, müsste ein Grundeinkommen doch eine beträchtliche Höhe haben, aus der sich die Gesundheitsund Pensionsvorsorge finanzieren lassen. Diese wie immer zu bemessende Höhe wird damit zu einer sowohl aus ethischen als auch finanziellen Gründen ganz wesentlichen Voraussetzung. Ganz anders bemisst sich diese, wenn es zusätzlich zu den bestehenden Transferzahlungen erfolgt, wodurch sich erst recht Fragen der Finanzierbarkeit ergeben. ine weitere wichtige Frage: Was an Verhaltensänderungen hat ein Grundeinkommen zur Folge? Befürchtet wird ein Rückzug aus dem
Emit Verknappung spezieller Tätigkeiten (vornehmlich im Niedriglohnsektor). Wenn Arbeit nicht mehr Voraussetzung für
Einkommen ist, vermindert sich der Anreiz, Qualität zu erwerben – durch Lehrlingsausund berufliche Fortbildung, Studium. In seiner personenorientierten Konzeption benachteiligt ein Grundeinkommen Alleinerzieherhaushalte. Bei einer vollkommenen Ersetzung des bestehenden Systems werden spezielle Bedürfnisse wie Behinderung oder chronische Krankheiten nicht berücksichtigt; und wenn, verliert es seine scheinbare Einfachheit. Als Signal für Einkommen ohne Arbeit geht die integrative Funktion von Arbeit zurück. Wirtschafts- und sozialpolitisch verliert Vollbeschäftigung als Ziel an Bedeutung. Hinter all den möglicherweise auch erwünschten Verhaltensänderungen bezüglich Arbeit bleibt die Grundfrage nach Fairness und Gerechtigkeit: Wer soll sich den Mühen und Zwängen eines Arbeitslebens unterwerfen, um damit den anderen die Freiheit davon zu finanzieren?
Darüber gibt es wenig an empirischem Wissen. Die oftmals zitierten Studien weisen gravierende Mängel auf. Die Anzahl der einbezogenen Personen ist klein, sie sind nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. Es wird nicht unterschieden, ob es sich um ein Grundeinkommen anstelle des vorhandenen Transfersystems handelt oder zusätzlich dazu. Der Beobachtungszeitraum ist kurz. Wenige Studien wurden in industriell orientierten Wirtschaften durchgeführt.
Selbst wenn es als Ziel gewünscht wird: Auf welcher politischen Ebene soll es durchgesetzt werden? Ein Einzelstaat in der Größe von Österreich, und selbst solche von größerer Ordnung, hätte mit absehbaren Folgen zu rechnen. Er wäre als Standort für Höher- und Hochqualifizierte nicht mehr sonderlich attraktiv, weil die Abgabenquote für Besserverdienende steigen würde. Umgekehrt wird voraussichtlich der Zuzug von Personen, die dieses besondere Sozialsystem ohne erforderliche Gegenleistung schätzen, zunehmen.
Die wichtigste Dimension eines Grundeinkommens ist in der öffentlichen Diskussion unberücksichtigt: Was soll damit hinsichtlich des Stellenwertes von Arbeit und Beschäftigung erreicht, welArbeitsmarkt che grundsätzliche Vorstellung von Gerechtigkeit und Verteilung damit verwirklicht werden? Die Antworten hängen sehr stark von seiner Ausgestaltung ab: Wie hoch soll es sein? Gibt es dessen Konzeption anstelle des bestehenden Sozialsystems? Oder ist es in dieses wie auch immer integriert? Das hängt auch davon ab, welche Anreize es jeweils schafft und verändert, und damit auch, welche Ergebnisse es hinsichtlich der Bekämpfung von Armut und wünschenswerter Verteilung schafft. as alles bedeutet, dass für zukünftige Diskussionen zweierlei Antworten gegeben werden müssen. Die eine betrifft das primäre Ziel: Geht es um geringere Armut, um größere Verteilungsgerechtigkeit (wie immer definiert), um mehr Freiheit? Bei der anderen geht es um die adäquate Implementierung: Wie muss es gestaltet sein, um die Ziele zu erreichen? Und ist es effektiver als das durchaus verbesserungsfähige bestehende Sozialsystem?
Das Grundeinkommen bleibt ein obskures Objekt der Begierde, gleichzeitig ein Paradebeispiel für die Schwierigkeiten einer am Ziel der Gerechtigkeit orientierten Sozialpolitik.
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