Die Grenzen Europas
Der Kandidatenstatus für die Ukraine ist ein wichtiges Signal. Österreich sollte sich nicht querlegen. Und die EU darf nicht die Irrtümer der Vergangenheit wiederholen.
Finis terrae, das Ende der Welt – so nannten die Pilger, die es im Mittelalter auf dem Weg nach Santiago de Compostela dorthin verschlug, den vom rauen Meer umtosten Zipfel im äußersten Nordwesten der Iberischen Halbinsel, der als Cabo Fisterra bis heute die Erinnerung an die Zeit vor der Entdeckung Amerikas bewahrt.
Die Frage, wo Europa aufhört, stellt sich dieser Tage auf eine ganz andere, nicht weniger eindringliche Weise. In der kommenden Woche werden die EUStaatsund Regierungschefs auf einem Sondergipfel in Brüssel der Ukraine und der Republik Moldau offiziell den Status von Beitrittskandidaten verleihen. Bedenken gegen diesen Schritt gibt es viele. Aber die Europäer wollen ein geopolitisches Zeichen setzen. Sie wollen dem Kreml verdeutlichen, dass sie beide nach dem Westen strebende Länder nicht Putins Imperialismus überlassen. Die Sprache der Gewalt soll nicht das letzte Wort haben und den kriegsgeplagten Ukrainern die Aussicht auf eine bessere Zukunft gegeben werden.
Man soll die hohe Symbolkraft dieser Geste nicht gering achten. Sie ist nicht zuletzt ein kräftiges Lebenszeichen der EU, die sich – durch äußere Umstände gezwungen – aus ihrer jahrelangen Lethargie aufrafft. Österreich sollte nicht querstehen.
Ebenso wenig darf aber die Dynamik unterschätzt werden, die mit dem Beitrittsstatus für Kiew ausgelöst wird. Mit Georgien klopft bereits der nächste Beitrittswerber ungeduldig an die Tür, weitere Anrainerstaaten werden wohl folgen. Kann das auf Dauer gut gehen?
Besorgniserregende Symptome der Überdehnung gibt es schon jetzt. Die groben Differenzen der alten Mitgliedstaaten mit Ungarn und Polen markieren eine tiefe kulturelle und politische Kluft zwischen Ost und West, einen grundsätzlichen Dissens, bei dem es im Kern um unterschiedliche Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Gewaltenteilung und nationaler Identität geht. Es besteht die reale Gefahr, dass die EU zum Opfer ihres Selbstverständnisses als normatives Projekt zur Schaffung eines einheitlichen Raums der Freiheit, Sicherheit und des Rechts wird, der grundsätzlich jedem Land offen steht. Dieses Risiko darf nicht verharmlost werden.
Dies umso mehr, als bei wichtigen Zukunftsentscheidungen der Europäer von der Klima- bis nun zur Erweiterungspolitik seit geraumer Zeit eine bedenkliche Alles-oder-nichts-Mentalität durchschlägt, die den Keim des Scheiterns an der Wirklichkeit in sich trägt.
S oll die Integration der Ukraine eines fernen Tages gelingen, wird die EU sich von diesem Maximalismus verabschieden müssen. Die Heranführung kann nur stufenweise und mit offenem Ausgang erfolgen. Die Modelle dafür gibt es schon. Sie sollten nun klug angewendet werden. Auch wenn es niemand offen ausspricht: Zukunft hat eine wachsende EU nur als Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Alles andere wäre fatal.