„Man muss an Humanismus glauben“
INTERVIEW. Dirigentin Oksana Lyniv sprach mit uns über den Krieg in ihrer Heimat Ukraine und die Notwendigkeit, dennoch die wahren Werte hochzuhalten.
Das Allerwichtigste zuerst: Wie geht es Ihrer Familie – Mutter, Vater, Bruder? OKSANA LYNIV: Alle sind in der Ukraine. Meine Mutter besuchte mich zwischendurch für drei Wochen. Sie war mit mir in Italien und in Deutschland. Aber dann wollte sie schon wieder zurück, zu meinem Vater und meinem Bruder mit Familie, der bei einer lokalen Verteidigungseinheit im Einsatz ist. Meine Eltern wohnen in der Westukraine, in Brody bei Lemberg, dort ist es – in Anführungsstrichen – ruhiger. Aber vergangenen Dienstag etwa gab es Luftangriffe, wahrscheinlich 20 Kilometer von zu Hause entfernt. Meine Eltern kümmern sich um fünf ostukrainische Flüchtlingsfamilien mit kleinen Kindern, die haben sie bei sich aufgenommen. Mein Vater setzt im Garten noch mehr frisches Gemüse an und schaut, dass wir genug Obst haben. Er befürchtet schwierige Jahre und sagt: Wenn wir selbst nicht alles brauchen, wird es bestimmt viele andere Menschen geben, die dringend Lebensmittel benötigen.
Sie wohnen mit Ihrem Mann in Düsseldorf. Wie ist es, diesem Wahnsinn in der Ukraine aus der Entfernung zuschauen zu müssen?
Unheimlich schwer. Der Krieg hat alle umgerissen. Um unter diesen Umständen weiterarbeiten zu können, muss man irgendwie abschalten können, man braucht einfach den Kopf, die Kraft, die Konzentration. Aber in Wahrheit kann man natürlich nicht wirklich abschalten. Man wacht auf und die schlechten Gedanken sind da: Wie geht es weiter? Wie lange zieht sich das noch hin? Es verbessert sich nichts, jeder Tag bringt noch mehr Opfer, noch mehr Leid.
Was fürchten Sie am meisten?
Wenn ein Land im Kriegszustand ist, fürchtet man alles. Um das Leben von Angehörigen, von allen. Wir kämpfen für unsere Freiheit und Souveränität, aber alle diese Opfer zu sehen, die vernichteten Städte … Man weiß nicht, wie man die Gewalt stoppen kann. Man hat ja das Gefühl, dass die Kunst, der Glaube, der Fortschritt unserer Zivilisation – alles, wofür wir gelebt haben – bei so einer Katastrophe keine Wirkung hat.
Auf Ihrer Facebook-Seite zitieren Sie Luther, eine Passage aus dem Brahms-Requiem: „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden“. Was bringt Ihnen Trost?
Ich kann wirklich noch nicht behaupten, dass ich mit der Situation zurechtkomme. Diese Zerrissenheit, die spürt man die ganze Zeit. Ich versuche, daran zu denken, dass auch andere Künstler in Kriegszeiten gelebt haben. Man muss trotz allem an Humanismus glauben, an Soli
darität und an die Evolution, dass der Mensch nicht immer nur blöd, gierig und zerstörerisch ist. Man muss an die europäischen Werte glauben, an das, was Schiller und Beethoven gedacht haben: Alle Menschen werden Brüder … Für die meisten ist das ja der größte Schock – dass im 21. Jahrhundert Krieg überhaupt noch möglich ist, und jetzt ist er schreckliche Realität, ein Trauma.
Was sagen Sie zu den Diskussionen um die Nicht-Einladungen von russischen Künstlern?
Also, ich finde es wirklich wichtig, auseinanderzuhalten, wer wofür steht. Es gibt natürlich Künstler, die eng zu Putin stehen und damit die russische Propaganda mittragen: Dirigent Valery Gergiev zum Beispiel oder Pianist Denis Matsuev. Aber es gibt auch viele andere, die vom Krieg geschockt sind und ihn klar verurteilen. Etwa Anna Skryleva, Chefdirigenten im Theater Magdeburg. Sie hat Flüchtlinge aus der Ukraine in ihr Orchester integriert und denkt an weitere Kulturprojekte, um Haltung zu zeigen. Sie sagte mir, dass sie jetzt vermutlich nie mehr nach Russland zurückkehren kann, obwohl ihre schon über 70 Jahre alte Mutter noch dort lebt. Die werde sie wohl nie mehr sehen.
Wie betrachten Sie den Spezialfall Anna Netrebko?
Es ist ganz klar, dass sie eine russische Ikone ist und von Putin gefördert war. Aber sie hat erst sehr spät verstanden, dass sie sich klar positionieren muss. Sie ist schon so lange in Wien, sodass sie bestimmt einen proeuropäischen Lebensstil hat. Aber dann gibt sie erst das eine Statement, dann das andere … Ich selbst glaube ihr nicht. Bei ihrem Einfluss und Namen habe ich mir mehr erwartet. Jetzt versteht man schon, es geht ihr um die Karriere. Und etliche Intendanten laden sie ja jetzt auch bereits wieder ein.
Wenn wir uns das nächste Mal sehen, worüber reden wir dann? Nur noch über Musik?
Ja, genau, hoffentlich!
Wie geht es Ihrem Youth Symphony Orchestra of Ukraine?
Wir sind derzeit bei vielen wichtigen Festivals eingeladen und haben gerade das Bach-Fest Leipzig eröffnet. Unsere nächsten Auftritte sind unter anderem in München, Berlin, Luzern, Bonn und auch beim HerbstgoldFestival in Eisenstadt sind wir dabei. Momentan ist das Orchester in Moers im Ruhrgebiet stationiert, wo wir im August auch an der dortigen Festwoche teilnehmen und wo sich die rund 40 Musizierenden, mit spezieller Genehmigung auch Burschen und Männer, gerade für weitere Auftritte vorbereiten – mit Dozenten von den Düsseldorfer Symphonikern, bei denen auch mein Mann als Geiger engagiert ist.
Erste Chefdirigentin in Graz, erste Frau am Pult in Bayreuth, seit heuer erste Chefdirigentin an einem Haus in Italien – in Bologna. Sind Sie eine Pionierin und fühlen Sie sich auch so?
Irgendwie hat es immer genau gepasst. Überraschend, dass man immer noch irgendwo plötzlich die Erste ist. Bis zur Pressekonferenz in Bologna, bei der ich vorgestellt wurde, war mir nicht bewusst, dass es noch gar keine Chefdirigentin vor mir in ganz Italien gab.
Ihre Aufgaben dort sind nicht so üppig wie an deutschsprachigen Bühnen?
Die Einladung, im Jänner 2022 zu beginnen, kam erst im Sommer 2021. Sehr sportlich! Also waren im ersten Jahr noch nicht so viele Aufgaben für mich drin und ich muss auch nicht in Bologna wohnen. Ab 2023 dirigiere ich zwei Opernproduktionen und drei, vier Konzert-Programme. Das Haus und das Orchester haben eine sehr große Tradition: Mehr als zehn Jahre war Sergiu Celibidache dort Chef, dann Riccardo Chailly, Christian Thielemann Junior war dort Gastdirigent …
In Graz bringen Sie mit den Philharmonikern morgen auch die Uraufführung Ihres Landsmannes Zoltan Almashi.
Ja. Er erzählte mir, dass er durch den Krieg so paralysiert war, dass er glaubte, er könne nicht mehr weiter komponieren. Aber dann kam von mir und Grazer Musikverein der Auftrag für dieses Werk. Dafür war er sehr dankbar, das hat ihn wieder aufgerichtet. „Maria’s City“– also Mariupol – klingt wie ein Lied, ein Choral. Almashi selbst sagt über das Werk, in das er sein Mitgefühl mit den Opfern und vor allem mit den Kindern steckte: „Was die Musiksprache betrifft, so ist sie meist weich, lyrisch und klingt wie ein ukrainisches Lied. Ich sehe es als eine zerbrechliche Pflanze, die durch den Beton, die Trümmer und Steinhaufen durchbricht, die auf dem Gelände zerstörter Häuser zurückgelassen wurden. Das Leben wird am Ende gewinnen. Wir werden gewinnen!“.