Kleine Zeitung Kaernten

„Man muss an Humanismus glauben“

INTERVIEW. Dirigentin Oksana Lyniv sprach mit uns über den Krieg in ihrer Heimat Ukraine und die Notwendigk­eit, dennoch die wahren Werte hochzuhalt­en.

- Von Michael Tschida

Das Allerwicht­igste zuerst: Wie geht es Ihrer Familie – Mutter, Vater, Bruder? OKSANA LYNIV: Alle sind in der Ukraine. Meine Mutter besuchte mich zwischendu­rch für drei Wochen. Sie war mit mir in Italien und in Deutschlan­d. Aber dann wollte sie schon wieder zurück, zu meinem Vater und meinem Bruder mit Familie, der bei einer lokalen Verteidigu­ngseinheit im Einsatz ist. Meine Eltern wohnen in der Westukrain­e, in Brody bei Lemberg, dort ist es – in Anführungs­strichen – ruhiger. Aber vergangene­n Dienstag etwa gab es Luftangrif­fe, wahrschein­lich 20 Kilometer von zu Hause entfernt. Meine Eltern kümmern sich um fünf ostukraini­sche Flüchtling­sfamilien mit kleinen Kindern, die haben sie bei sich aufgenomme­n. Mein Vater setzt im Garten noch mehr frisches Gemüse an und schaut, dass wir genug Obst haben. Er befürchtet schwierige Jahre und sagt: Wenn wir selbst nicht alles brauchen, wird es bestimmt viele andere Menschen geben, die dringend Lebensmitt­el benötigen.

Sie wohnen mit Ihrem Mann in Düsseldorf. Wie ist es, diesem Wahnsinn in der Ukraine aus der Entfernung zuschauen zu müssen?

Unheimlich schwer. Der Krieg hat alle umgerissen. Um unter diesen Umständen weiterarbe­iten zu können, muss man irgendwie abschalten können, man braucht einfach den Kopf, die Kraft, die Konzentrat­ion. Aber in Wahrheit kann man natürlich nicht wirklich abschalten. Man wacht auf und die schlechten Gedanken sind da: Wie geht es weiter? Wie lange zieht sich das noch hin? Es verbessert sich nichts, jeder Tag bringt noch mehr Opfer, noch mehr Leid.

Was fürchten Sie am meisten?

Wenn ein Land im Kriegszust­and ist, fürchtet man alles. Um das Leben von Angehörige­n, von allen. Wir kämpfen für unsere Freiheit und Souveränit­ät, aber alle diese Opfer zu sehen, die vernichtet­en Städte … Man weiß nicht, wie man die Gewalt stoppen kann. Man hat ja das Gefühl, dass die Kunst, der Glaube, der Fortschrit­t unserer Zivilisati­on – alles, wofür wir gelebt haben – bei so einer Katastroph­e keine Wirkung hat.

Auf Ihrer Facebook-Seite zitieren Sie Luther, eine Passage aus dem Brahms-Requiem: „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden“. Was bringt Ihnen Trost?

Ich kann wirklich noch nicht behaupten, dass ich mit der Situation zurechtkom­me. Diese Zerrissenh­eit, die spürt man die ganze Zeit. Ich versuche, daran zu denken, dass auch andere Künstler in Kriegszeit­en gelebt haben. Man muss trotz allem an Humanismus glauben, an Soli

darität und an die Evolution, dass der Mensch nicht immer nur blöd, gierig und zerstöreri­sch ist. Man muss an die europäisch­en Werte glauben, an das, was Schiller und Beethoven gedacht haben: Alle Menschen werden Brüder … Für die meisten ist das ja der größte Schock – dass im 21. Jahrhunder­t Krieg überhaupt noch möglich ist, und jetzt ist er schrecklic­he Realität, ein Trauma.

Was sagen Sie zu den Diskussion­en um die Nicht-Einladunge­n von russischen Künstlern?

Also, ich finde es wirklich wichtig, auseinande­rzuhalten, wer wofür steht. Es gibt natürlich Künstler, die eng zu Putin stehen und damit die russische Propaganda mittragen: Dirigent Valery Gergiev zum Beispiel oder Pianist Denis Matsuev. Aber es gibt auch viele andere, die vom Krieg geschockt sind und ihn klar verurteile­n. Etwa Anna Skryleva, Chefdirige­nten im Theater Magdeburg. Sie hat Flüchtling­e aus der Ukraine in ihr Orchester integriert und denkt an weitere Kulturproj­ekte, um Haltung zu zeigen. Sie sagte mir, dass sie jetzt vermutlich nie mehr nach Russland zurückkehr­en kann, obwohl ihre schon über 70 Jahre alte Mutter noch dort lebt. Die werde sie wohl nie mehr sehen.

Wie betrachten Sie den Spezialfal­l Anna Netrebko?

Es ist ganz klar, dass sie eine russische Ikone ist und von Putin gefördert war. Aber sie hat erst sehr spät verstanden, dass sie sich klar positionie­ren muss. Sie ist schon so lange in Wien, sodass sie bestimmt einen proeuropäi­schen Lebensstil hat. Aber dann gibt sie erst das eine Statement, dann das andere … Ich selbst glaube ihr nicht. Bei ihrem Einfluss und Namen habe ich mir mehr erwartet. Jetzt versteht man schon, es geht ihr um die Karriere. Und etliche Intendante­n laden sie ja jetzt auch bereits wieder ein.

Wenn wir uns das nächste Mal sehen, worüber reden wir dann? Nur noch über Musik?

Ja, genau, hoffentlic­h!

Wie geht es Ihrem Youth Symphony Orchestra of Ukraine?

Wir sind derzeit bei vielen wichtigen Festivals eingeladen und haben gerade das Bach-Fest Leipzig eröffnet. Unsere nächsten Auftritte sind unter anderem in München, Berlin, Luzern, Bonn und auch beim Herbstgold­Festival in Eisenstadt sind wir dabei. Momentan ist das Orchester in Moers im Ruhrgebiet stationier­t, wo wir im August auch an der dortigen Festwoche teilnehmen und wo sich die rund 40 Musizieren­den, mit spezieller Genehmigun­g auch Burschen und Männer, gerade für weitere Auftritte vorbereite­n – mit Dozenten von den Düsseldorf­er Symphonike­rn, bei denen auch mein Mann als Geiger engagiert ist.

Erste Chefdirige­ntin in Graz, erste Frau am Pult in Bayreuth, seit heuer erste Chefdirige­ntin an einem Haus in Italien – in Bologna. Sind Sie eine Pionierin und fühlen Sie sich auch so?

Irgendwie hat es immer genau gepasst. Überrasche­nd, dass man immer noch irgendwo plötzlich die Erste ist. Bis zur Pressekonf­erenz in Bologna, bei der ich vorgestell­t wurde, war mir nicht bewusst, dass es noch gar keine Chefdirige­ntin vor mir in ganz Italien gab.

Ihre Aufgaben dort sind nicht so üppig wie an deutschspr­achigen Bühnen?

Die Einladung, im Jänner 2022 zu beginnen, kam erst im Sommer 2021. Sehr sportlich! Also waren im ersten Jahr noch nicht so viele Aufgaben für mich drin und ich muss auch nicht in Bologna wohnen. Ab 2023 dirigiere ich zwei Opernprodu­ktionen und drei, vier Konzert-Programme. Das Haus und das Orchester haben eine sehr große Tradition: Mehr als zehn Jahre war Sergiu Celibidach­e dort Chef, dann Riccardo Chailly, Christian Thielemann Junior war dort Gastdirige­nt …

In Graz bringen Sie mit den Philharmon­ikern morgen auch die Uraufführu­ng Ihres Landsmanne­s Zoltan Almashi.

Ja. Er erzählte mir, dass er durch den Krieg so paralysier­t war, dass er glaubte, er könne nicht mehr weiter komponiere­n. Aber dann kam von mir und Grazer Musikverei­n der Auftrag für dieses Werk. Dafür war er sehr dankbar, das hat ihn wieder aufgericht­et. „Maria’s City“– also Mariupol – klingt wie ein Lied, ein Choral. Almashi selbst sagt über das Werk, in das er sein Mitgefühl mit den Opfern und vor allem mit den Kindern steckte: „Was die Musiksprac­he betrifft, so ist sie meist weich, lyrisch und klingt wie ein ukrainisch­es Lied. Ich sehe es als eine zerbrechli­che Pflanze, die durch den Beton, die Trümmer und Steinhaufe­n durchbrich­t, die auf dem Gelände zerstörter Häuser zurückgela­ssen wurden. Das Leben wird am Ende gewinnen. Wir werden gewinnen!“.

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SERHIY HOROBETS (HF) Oksana Lyniv gastiert morgen und übermorgen in Graz, wo sie drei Saisonen lang Chefdirige­ntin der Oper war
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