„Die europäische Politik hat extrem viel verschlafen“
INTERVIEW. Aufsichtsratschef Hans Jörg Kaltenbrunner übergibt am Freitag das Zepter bei der ams-Osram AG. Warum der Rekord-Kauf weder von Jagdinstinkt noch von Euphorie getragen war und Größe kein Selbstzweck ist.
Sie waren 1994 erstmals im Aufsichtsrat der damaligen Austria Mikro Systeme AG vertreten. Damals wurde mit 650 Beschäftigten zum ersten Mal die Umsatzschwelle von einer Milliarde Schilling durchbrochen. Mittlerweile setzt die heutige ams-Osram AG mit 24.000 Mitarbeitern mehr als fünf Milliarden Euro um. Beeindrucken Sie solche Zahlen in der Rückschau?
HANS JÖRG KALTENBRUNNER:
Der Umsatz selbst ist eine Indikation, wie sich der Markt in der Halbleiterei insgesamt entwickelt hat. Aber er ist auch eine Indikation, wie sich die Struktur verändert hat. Sie ist ein globales, enorm kapitalintensives Geschäft geworden. Die Einheiten wurden größer, das ist an sich ein gutes Zeichen einer reifer werdenden Industrie. Die ams hatte zwei Möglichkeiten. Entweder man wird Teil von irgendetwas – oder man ist mit genug Selbstvertrauen tätig und sagt, mir ist meine Unabhängigkeit so wichtig, dass ich es aus eigenem Antrieb schaffe. Die Beibehaltung der Eigenständigkeit war immer ein hohes Ziel.
Denken Sie sich in emotionalen Momenten manchmal, erstaunlich, was daraus geworden ist?
Es ist gut, dass wir es waren, die in unserem Bereich der Industrie diese Entwicklung vorangeeingependelt. trieben haben. Aber das stellt man sich nicht als besondere Errungenschaft aufs Nachtkastl.
Ist Ihr Abschied dennoch einer mit Wehmut?
Es ist sicher einer mit Wehmut, es gibt ja auch eine besondere Verbundenheit mit dem Unternehmen. Auf der anderen Seite ist es ein Privileg, die Entscheidung selbst treffen zu können. Es ist eine gute Zeit für den Wechsel. Für neue Perspektiven, neue Ideen.
Die Halbleiter-Branche ist global besonders stark vernetzt. Kann sich ams Osram da überhaupt noch als österreichisches Unternehmen verstehen?
Die Bedeutung des Standortes in der Steiermark ist nicht hoch genug einzuschätzen. Die Welt miteingebunden zu haben, ist aber eine Notwendigkeit dieser Industrie.
Stand es eigentlich nach der Osram-Übernahme zur Diskussion, die Zentrale zu verlagern? München statt Premstätten?
Die Frage war nie Premstätten oder München. Die Situation war immer, Premstätten und München als „Head Office“. Der Konzern beschäftigt 24.000 Leute. Durch die Größe ist Arbeitsteilung erforderlich. Das hat sich meines Erachtens gut
Der Personalstand in Premstätten ist seit der Übernahme sogar leicht gewachsen und wir haben derzeit auch mehr als 50 unbesetzte Positionen.
Befürchtungen, dass die Übernahme von Osram den Standort schwächen könnte, haben sich nicht bewahrheitet?
Ganz im Gegenteil. Es hat nicht zu einer Schwächung beigetragen. Wir bauen die Produktion in Premstätten weiter aus, haben beschlossen, einen Teil der Filter-Fertigung aus Asien zurück zu verlagern, um es konzentriert an einem Standort zu haben. Premstätten profitiert von der neuen Größe.
Die Übernahme von Osram war mit 4,6 Milliarden Euro die größte, die ein österreichisches Unternehmen je stemmte. Und sie war eine Hochschaubahn. Hatten Sie zwi
schenzeitlich Zweifel, ob es denn wirklich klappen wird?
Es hat seitens des Aufsichtsrates sehr klare Kriterien gegeben. Es musste eine Finanzierungsstruktur sein, die langfristig orientiert ist. Es musste einen klaren Integrationsplan geben. Und es musste ausreichend Management-Kapazität zur Verfügung stehen, um das Tagesgeschäft und die Integration zu schaffen. Der Vorstand konnte das in hohem Ausmaß leisten. Deswegen war der Aufsichtsrat ungeteilt dafür. Die Zwischentöne, die vom ehemaligen Osram-Management kamen, haben die Sache weder begünstigt noch gefährdet.
Der Aufsichtsrat war jenes Gremium, das den gigantischen Deal absegnen musste. Gab’s da gar keine schlaflose Nacht im Vorfeld?
Aus Euphorie oder Jagdinstinkt macht man so etwas nicht. Es
gemacht, weil die beiden Unternehmen sehr gut zusammenpassen. Wir haben die Leuchtmittel auf der Osram-Seite und die Spezialisierung der ams auf die optische Sensorik. Also dort, wo das Licht aufgenommen wird und die Daten weiterverarbeitet werden. Zusammen ist das ein Gesamtsystem. Größe ist wichtig in der Halbleiterei – um sich die Kosten besser aufteilen zu können. Aber es ist bei Gott kein Selbstzweck.
2018 stand der Kurs der ams-Aktie auf dem Allzeithoch von mehr als 78 Franken, nach der fixierten Osram-Übernahme im Dezember 2020 immerhin noch bei rund 24. Aktuell liegt man unter neun Franken. Wie ging es Ihnen in den letzten fünf Jahren beim Blick auf diese Kursentwicklung?
Es geht mir nicht gut damit. Das ist absolut nicht zufriedenstellend. Daran muss intensivst gearbeitet werden. Es geht um eine Verbesserung der Ertragslage und um Überzeugungsarbeit bei den Investoren. Nicht beeinflussen kann man natürlich die makroökonomische Situation. Der Aktienkurs, wie er sich heute darstellt, ist in keiner Weise akzeptabel. Ich bin auch Aktionär – und werde das auch in Zukunft sehr genau beobachten.
Inwiefern belasten Sie die gestörten Lieferketten. Gibt es Elektronikkomponenten, die sie zurzeit nicht bekommen?
Es gibt Einschränkungen. Der Mangel betrifft uns auch, da wir nicht alles im eigenen Haus fertigen. Auch wir haben Produktionspartner, mit einem Schwerpunkt in Taiwan, die sehr gut ausgelastet sind. Aber es ist managebar. Zugleich sehen wir auch entsprechende Probleme bei Kunden, speziell in der Automotive-Industrie. Damit können auch wir dorthin nicht alles zuliefern, was wir wollten.
Wie essenziell ist die Halbleiterindustrie Taiwans für ams Osram? Aktuell verschärft sich dort der Konflikt mit China wieder.
Wenn es zu einer politisch-militärischen Konfliktsituation in Taiwan kommt, hätte das extreme globale Auswirkungen. Taiwan hat es geschafft, zum Elektronikzentrum der Welt zu werden und liefert heute einen nicht unerheblichen Teil von Halbleitererzeugnissen der höchsten Technologiestufen. Wenn das nicht mehr lieferbar wäre, gäbe es kaum jemanden, der das auch nur annähernd ersetzen könnte.
Wie eng ist die Verbundenheit von ams Osram mit TSMC, dem größten Chipfertiger in Taiwan?
Die TSMC ist ein sehr, sehr wichtiger Partner. TSMC ist Lieferant, einen nicht kleinen Teil unserer dann weiterverkauften Produkte lassen wir zunächst in Taiwan fertigen. TSMC ist aber auch technischer Kooperationspartner. Und TSMC investiert heuer 40 bis 44 Milliarden USwurde
Dollar in neue Anlagen. Das entspricht in etwa dem, was sich die EU in ihrem „Chips Act“insgesamt vorgenommen hat.
Warum spielen wir so eine untergeordnete Rolle?
Die europäische Politik hat extrem viel verschlafen in den letzten 30 Jahren. Jetzt gibt es zwar ein Aufwachen – aber ich bin mir noch nicht sicher, ob diese Wunschliste, die in diesem Gesetzesentwurf drinnen steht, wirklich das ist, was wir in Europa jetzt brauchen.
Inwiefern?
Wer diese 160 Seiten liest, muss prinzipiell sagen, dass das alles ganz gut klingt. Auch 43 Milliarden Euro klingen nach viel. Aber wenn Sie es in Proportion setzen mit dem, was Konzerne wie eben TSMC in einem Jahr machen, ist es sehr wenig. Das Zweite ist: Sie schütteln so etwas nicht aus dem Ärmel. Das ist eine lange Entwicklungsarbeit, die da dahintersteht. Wer das einigermaßen konsequent durchzieht, hat in zehn bis 15 Jahren zumindest etwas – aber sicher nicht die Versorgungssicherheit der europäischen Industrie mit Halbleiterprodukten.
Ist es realistisch, dass man sich in dieser Branche ein autonomes Europa vorstellen kann?
Zu 100 Prozent sicher nicht. Das ist auch nicht sinnvoll. Es wird in diesem Spektrum an Technologien immer Teile geben, die sie selbst nicht abdecken können. Umso wichtiger ist der Schritt, den Infineon mit der Fertigung in Villach gesetzt hat. Es muss politisches Ziel sein, diese Fertigungen weiter nach Europa zu bekommen. Es ist wichtig, Produktion vor Ort zu haben, weil sie eine hohe Streuwirkung haben. Aus der ams sind in den letzten 30 Jahren zig andere Unternehmen entstanden, die im Großraum Graz heute wahrscheinlich mehr Leute beschäftigen als ams Osram in Premstätten.