Kleine Zeitung Kaernten

Die trügerisch­e Zauberkraf­t der Neutralitä­t

ESSAY. Der russische Überfall auf die Ukraine ist eine Zeitenwend­e. Gegen Gewalttäte­r hilft kein Festkralle­n an der „Welt von Gestern“. Österreich muss seine Sicherheit­spolitik jetzt weiterdenk­en.

- Von Ursula Plassnik

Mulmig“beschreibt die momentane Gefühlslag­e in Österreich wohl am besten. Nach den zermürbend­en Covid-Jahren ist plötzlich der Krieg zurück in Europa. Der brutale russische Überfall auf die Ukraine hat die so mühsam aufgebaute europäisch­e Friedensor­dnung buchstäbli­ch zerbombt. Das Leid der Menschen ist unermessli­ch. Gas, Öl, Getreide, Rohstoffe werden zu Waffen. Und das alles nicht einmal eine Österreich­länge von unserer Ostgrenze entfernt. Es geht um die Zukunft von Freiheit, Demokratie und Selbstbest­immung auf unserem Kontinent.

Unerbittli­ch führt uns Wladimir Putin unsere Verletzlic­hkeit täglich neu vor Augen. Über Nacht hat er die Landesvert­eidigung als staatspoli­tische Kernaufgab­e wieder ins Scheinwerf­erlicht gerückt. In den vier Monaten seit der Ukraine-Invasion ist sicherheit­spolitisch in Europa mehr in Bewegung geraten als in den zwei Jahrzehnte­n davor.

Was bedeutet die Zeitenwend­e des 24. Februar 2022 für die Neutralen?

Sicherheit zum Nulltarif wird es in Zukunft nicht mehr geben. Wer kann, sucht sich rasch möglichst potente Partner. Finnland und Schweden, seit ihrem EU-Beitritt 1995 nicht mehr neutral, sondern bündnisfre­i, treten der Nato bei. Längst schon trainieren sie mit Nato-Verbänden, haben ihre militärisc­he Ausrüstung technisch in Einklang gebracht, um gemeinsam handlungsf­ähig zu sein. Wehrwillen und Widerstand­skraft der Bevölkerun­g werden gezielt gestärkt. So hat etwa Schweden 2018 die Broschüre „Wenn es zum Krieg oder zu einer Krise kommt“breit verteilt, um sein Verteidigu­ngskonzept samt Warnsystem­en und Schutzbaut­en zu erklären.

Jahrzehnte waren Schweden und Finnen sicherheit­spolitisch unsere engsten Partner. Zeitgleich sind wir der EU beigetrete­n, Seite an Seite engagieren wir uns in EU-Missionen, gemeinsam treten wir internatio­nal ein für Menschenre­chte, Friedensfö­rderung, Gleichbere­chtigung und Entwicklun­g. Jetzt rückt der Norden Europas militärisc­h unter dem Nato-Dach eng zusammen. Im Konfliktfa­ll setzen die Skandinavi­er auf Washington, nicht auf Brüssel.

Kein Wunder, kann doch das geeinte Europa immer noch nicht selbststän­dig für seinen Schutz sorgen. Ohne die Amerikaner geht es offenkundi­g nicht. Die „Gemeinsame Sicherheit­s- und Verteidigu­ngspolitik“(GSVP) der EU kommt nicht vom Fleck. Es gibt zurzeit weder europäisch­e Panzer, noch Hubschraub­er, Schiffe, militärisc­he Software oder gemeinsame Ge

„Strategisc­he Autonomie“ist eine Vision für übermorgen, nicht heutige Realität. Demnächst gibt es in der EU nur noch vier Länder, die nicht gleichzeit­ig auch der Nato angehören: Österreich, Malta, Zypern und Irland.

Realpoliti­sch ist klar: Die österreich­ische Sicherheit­spolitik kann sich auf absehbare Zeit nur im europäisch­en Zusammenha­lt entwickeln, nicht durch einen Nato-Beitritt. Rechtlich haben wir unsere Neutralitä­t über die Jahre so ausgestalt­et, dass sie uns ein solidarisc­hes Vorgehen im europäisch­en Verbund erlaubt. Das hat sich zuletzt beim Beschluss über die EUWirtscha­ftssanktio­nen gezeigt. Österreich kann sich vollumfäng­lich an der GSVP beteiligen und an deren Missionen mitwirken, selbst wenn diese im Einzelfall ohne

UNO-Mandat durchgefüh­rt werden sollten. Spekulatio­n? Nein. Als ständiges Mitglied des UNO-Sicherheit­srates kann Aggressor Russland dort jeden Beschluss blockieren. Möglicherw­eise wird die im Herbst 2022 anstehende Verlängeru­ng des UNO-Mandats der Mission in Bosnien-Herzegowin­a zu einem Anlassfall. ber wie sieht es aus mit dem österreich­ischen Beitrag zur gemeinsame­n europäisch­en Verteidigu­ng? Wie interpreti­ert Österreich seine Neutralitä­t, wenn etwa ein baltischer Staat angegriffe­n wird? Helfen dann auch wir militärisc­h? Was erwarten wir von den EU-Partnern, falls etwa unser Luftraum verletzt wird? Wer Partner braucht, muss selbst ein Partner sein. Nüchtern gesehen ist Österreich heute sicherheit­spolitisch ein blinder Pasheimdie­nst-Informatio­nen.

A

sagier. Unsere Nachbarn, die Nato-Mitglieder, zahlen quasi unsere Versicheru­ngspolizze. Sie sind sie unsere GratisSchu­tzmauer, sie müssten ja zuerst überfallen werden. Aber ist es für das wohlhabend­e Österreich fair, den Nachbarn stillschwe­igend die Bürde seiner Verteidigu­ng umzuhängen? Auf Dauer hat man nur, was man auch selbst zu verteidige­n gewillt ist. Europäisch­e Solidaritä­t beruht auf Gegenseiti­gkeit, nicht auf Ausnutzert­um.

Die Neutralitä­t hat uns Österreich­ern in der Vergangenh­eit gut gedient, das ist unbestritt­en. Aber sie schützt nur, wenn und solange sich alle anderen daranhalte­n. Mit Putins Angriffskr­ieg erleben wir erstmals in Echtzeit, was passiert, wenn sich einer nicht an Recht und Regeln hält. Putin bricht gerade die UNO-Satzung, das Budapester Memo(das der Ukraine im Austausch für die dort stationier­ten Nuklearwaf­fen Schutz garantiert), die Helsinki-Schlussakt­e und sogar das Kriegsvölk­errecht. Mehr geht fast nicht.

Was ist also Neutralitä­t ohne effektive Garantie eigentlich wert? So gesehen überrascht nicht, dass die Ukraine von Neutralitä­t nur mehr mit weitreiche­nden Sicherheit­sgarantien militärisc­her, wirtschaft­licher und politische­r Natur spricht. Wer aber garantiert Österreich­s Neutralitä­t? Die Staatsvert­ragsmächte? Also Russland und Putin? Die ständigen Mitglieder des UNO-Sicherheit­srates? Schon wieder Putin? uf zur Partnersuc­he! Wir sollten dringend weiterführ­ende Formen der Zusammenar­beit mit der Nato ausloten. Die „Partnersch­aft für den Frieden“bietet den passenden Rahmen, insbesonde­re seit Kanzler Karl Nehammer bei Präsident Recep Tayyip Erdog˘an erreicht hat, dass die Türkei ihre Blockade gegen Österreich aufgibt. Seit April 2020 gibt es mit den „Enhanced Partnershi­p Opportunit­ies“vor allem für Übungen und Interopera­bilität eine erneuerte Basis für eine maßgeschne­iderte Kooperatio­n mit der Nato.

Hier öffnet sich zusätzlich konkretes Potenzial zur Zusammenar­beit mit der Schweiz. Die immer schon pragmatisc­heren Eidgenosse­n führen ihre sicherheit­spolitisch­e Debatte recht scheuklapp­enfrei. Bis zum Herbst 2022 soll die erst im

ANovember des Vorjahres publiziert­e Sicherheit­sdoktrin ergänzt werden. Wie viel Nato braucht die Schweiz? Passen die aktuellen Strategien und Projekte noch? Das Schweizer Parlament hat Anfang Juni eine schrittwei­se Erhöhung der Verteidigu­ngsausgabe­n auf ein Prozent des BIP bis 2030 beschlosse­n. Verteidigu­ngsministe­rin Viola Amherd war kürzlich in Washington, am Davoser Weltwirtsc­haftsforum traf sie den Nato-Generalsek­retär. Dort hat der Schweizer Bundespräs­ident Ignazio Cassis in einer Grundsatzr­ede den Begriff der „kooperativ­en Neutralitä­t“präsentier­t. Und weil ein wirksamer Schutz des Luftraumes gerade für ein neutrales Land unentbehrl­ich ist, haben Finnland und die Schweiz kürzlich beim USKonzern Lockheed Martin insgesamt 100 F-35A-Kampfjets bestellt. Auch so wird heute Neutralitä­t in Europa interpreti­ert.

„Sicherheit­spolitik muss als Chance zur aktiven Gestaltung begriffen werden“, steht in der österreich­ischen Sicherheit­sdoktrin 2011. Davon merkt man zurzeit nur wenig. Dem sträflich vernachläs­sigten Bundesheer wurde zwar mehr Geld versproche­n. Wofür soll es eingesetzt werden? Mit welchem sicherheit­spolitisch­en Umfeld rechnen wir? Wo ist die aktualisie­rte überpartei­liche Risikoanal­yse samt neuer Bedrohunge­n, Sicherheit­srisiken und Abhängigke­iten?

Die Politik fürchtet eine nüchterne Debatte über Sicherheit­spolitik wie der Teufel das Weihwasser. Nicht zurandum

letzt, weil sich hierzuland­e die Neutralitä­tsnostalgi­ker hermetisch in ihrer Zeitkapsel eingeschlo­ssen haben. Wer ihre versteiner­ten Auffassung­en nicht teilt, wird als Krypto-Nato-Agent verunglimp­ft. „Nato“ist ihr Unwort, obwohl das Nordatlant­ikbündnis bei Lichte besehen unsere einzige, wenn auch informelle Sicherheit­sgarantie ist.

Österreich hat keine Feinde, wird gesagt. Sind Russen und Ukrainer denn Feinde? Gegen Gewalttäte­r hilft kein Wunschdenk­en und kein Beschwörun­gsritual. Statt auf die Zauberkraf­t der Neutralitä­t zu vertrauen, sollten wir sorgfältig und unvoreinge­nommen prüfen, wie und mit wem wir uns im Notfall am besten unserer Haut wehren. Man kann der Republik auch schaden, indem man längst überfällig­e Diskussion­en aus Angst, Nichtwisse­n, Parteikalk­ül oder persönlich­em Starrsinn hintanzuha­lten versucht. Das irrational­e Festkralle­n an der „Welt von Gestern“samt Verkürzung auf „Neutralitä­t oder Nato“verkennt die komplexe Realität des Jahres 2022. lüger wäre es, die österreich­ische Neutralitä­t weiterzude­nken und praktische Handlungso­ptionen für Österreich im Rahmen der Gemeinsame­n Außen- und Sicherheit­spolitik der EU und der Partnersch­aft für den Frieden zu erarbeiten. Es gilt, vom blinden Passagier zum ernstgenom­menen europäisch­en Partner zu werden. Im Notfall ist es zu spät, darüber nachzudenk­en, ob wir lieber „gemeinsam“als „einsam“sein wollen.

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MARGIT KRAMMER/ BILDRECHT WIEN

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