Die Humanisierung des Himmels
Ludwig Feuerbach wollte die Götter auf die Erde zurückholen. Dadurch soll der Gläubige, der vor dem Absoluten die Knie beugt, zur wahren Menschlichkeit finden. Eine Würdigung zum 150. Todestag des großen Philosophen.
Am 13. September 2022 jährt sich der Todestag des Philosophen Ludwig Feuerbach zum 150. Mal. Er starb 1872 bei Nürnberg. Es ist erstaunlich, wie wenig von diesem Großgestirn des aufgeklärt-humanistischen Denkens heute die Rede ist. Zu seiner Zeit war Feuerbach den Wortführern der frühsozialistischen und linksdemokratischen Bewegungen ein bewundertes Vorbild.
Hingegen ist vielen von uns bloß noch gegenwärtig, was Karl Marx in seinen „Thesen über Feuerbach“1845 resümierend notierte: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern.“Was hätte Feuerbach darauf erwidert? Er hätte sich weder mit dem geistlosen Materialismus der kommunistischen Vordenker noch mit den brutalen Methoden der antikapitalistischen Revolutionäre anfreunden können.
1804 in Landshut im Kurfürstentum Bayern geboren, erlebt der junge Feuerbach die Aufbruchsbewegung im sogenannten Vormärz, der in die Revolution von 1848 einmündet. Feuerbachs Vater war ein bedeutender Jurist. Von Feuerbachs Mutter, die – entfernt adeliger Abstammung – aus bescheidenen Verhältnissen kam, ist überliefert, sie sei „voller Herzensgüte und Sanftmut“gewesen. Es mag dieser familiäre Hintergrund gewesen sein, der Feuerbach von Anfang an denken ließ, dass alle soziale Veränderung nur dann fruchte, wenn sie aus dem Wissen darüber erfolge, was das wahre Wesen des Menschen sei. Dieses strebt nicht nur nach geistigen Gütern, namentlich solchen, wie sie die Religion bereitstellt, sondern ebenso nach dem Glück der Sinne.
Anfänglich Hegels Idealismus zugeneigt, lehnte Feuerbach bald die Idee einer Entwicklung der Geschichte aus der reinen Dialektik des Geistes ab, zumal im Sinne der christlichen Heilsgeschichte. Nachdem er bereits mit 25 Jahren, 1828, an der Erlanger Universität zum Dozenten avanciert war, endete seine akademische Laufbahn bald wieder mit der Veröffentlichung der von ihm verfassten „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“. Darin wendete er sich gegen die christliche Orthodoxie und ihre gedankliche Enge, namentlich ihre Feindschaft gegenüber der aufblühenden
Naturwissenschaft. Er bestritt das Dogma vom persönlichen Weiterleben nach dem Tod.
1841 publizierte Feuerbach sein Hauptwerk über das „Wesen des Christentums“. Darin kam seine Religionskritik zu voller Entfaltung. Antike Vorläufer aufnehmend, behandelte er die religiösen Ideen als „Projektionen“menschlicher Bedürfnisse in ein überirdisches Reich – das „Jenseits“. Doch Feuerbach war kein simpler Atheist. Die üppige, weitverzweigte religiöse Bilderwelt war für ihn Beweis genug, dass die Sinnlichkeit des Menschen ein Fundament seiner Natur bilde und nicht etwa Ausfluss einer Sündhaftigkeit sei. Die Sinnlichkeit – so Feuerbach – strebe nach Freude und Gemeinschaft mit anderen sinnlich fühlenden Wesen.
Für Feuerbach ist das Materielle und Körperhafte auch, wie wir heute sagen würden, ein Politikum: Es ist die Essenz des Lebens, und das damit einhergehende Bewusstsein fordert die Anerkennung und Erfüllung jener fundamentalen Bedürfnisse, welche die menschliche Natur mit sich bringt – nicht ihre Unterdrückung, zumal im Dienst der mächtigen Interessen von Klerus, Adel und Kapital. Feuerbach schuf, wie es unter seinen Zeitgenossen enthusiastisch hieß, eine „neue Philosophie“, zu der sich anfangs Wagner ebenso bekannte wie Nietzsche. Beide distanzierten sich später, der eine, weil er in Schopenhauers Weltwillen das „tragisch
Große“fand, der andere, weil er Feuerbachs angeblichen „Theologengeruch“verabscheute, dem er das Raubtierhafte des Übermenschen entgegenstellte. Mit beidem wird sich später Hitler anfreunden können… Warum also geriet Feuerbachs „anthropologischer Humanismus“außer Mode? Weil er unter Vermeidung politischer Kurzschlüsse und der Enge des englischen Utilitarismus nach dem Motto „das größte Glück der größten Zahl“– gemeint ist die Zahl an Menschen – einer komplexeren Vorstellung Raum gab, die jedem Machtkalkül fremdblieb. In Feuerbachs humanistischem Ideal findet sich das Glück der Sinne mit dem reflektierten Wohlbefinden des Geistes in einer liberal-rechtsstaatlichen, verteilungsgerechten Kommunität zusammen.
Freilich, damit ließ sich weder ein Gehorsamsregime im Sinne des „preußischen Kasernenhofs“rechtfertigen noch eine blutige Weltrevolution nach dem Geschmack des entfesselten Kommunismus. Feuerbach stieß bei all jenen auf erbitterte Ablehnung, die „Gott und Vaterland!“auf ihre Fahnen schrieben, um schließlich im Faschismus, bei der Vergöttlichung der Rasse – und Verteufelung des „Rassefremden“– zu enden.
Im „Wesen des Christentums“steht zu lesen: „An dem andern habe ich erst das Bewusstsein der Menschheit; durch ihn erst erfahre, fühle ich, dass ich Mensch bin; in der Liebe zu ihm wird mir erst klar, dass er zu mir und ich zu ihm gehöre, dass wir beide nicht ohneeinander sein können, dass nur die Gemeinsamkeit die Menschheit ausmacht.“Der politische Realist mag entgegnen: Schön und gut, aber wie sollen wir uns konkret verhalten, was den Klimawandel, das Auseinanderdriften von Arm und Reich, die Missachtung der Menschenrechte und die Kriegstreibereien rundum betrifft?
Doch der Realist missversteht Feuerbachs bleibende Mission. Dessen Religionskritik endet nicht bei religiösen Leerformeln. Sie will vielmehr den Götterhimmel, als Spiegelung der Menschennatur, „humanisieren“. Auf diese Weise soll der Gläubige, der vor dem unbegreifbar Absoluten die Knie beugt, zur wahren Humanität – zu Solidarität, Caritas und Milde – angeleitet werden.