„Die Nacht wird lange und dunkel sein“
Niederlagen in der Ukraine und Rückzug aus der Charkiw und Cherson: Das offizielle Russland nimmt solche Ereignisse nur begrenzt wahr.
Moskau feiert neue Siege. Am Samstag eröffneten Wladimir Putin und Bürgermeister Sergei Sobjanin das mit 140 Meter höchste Riesenrad Europas. In seiner Ansprache erinnerte der Staatschef an die Soldaten, die „für ein friedliches Leben im Donbass“kämpften und an „unsere Kampfgenossen, die ihr Leben für Russland gaben“, aber ebenso an verdiente Ärzte, Wissenschaftler und Kulturschaffende.
Aber in Russlands militärpatriotischer Szene herrscht heiliger Zorn. „Die Hauptstadt unseres Vaterlands feiert die Aufgabe von Balaklija, Isjum und halb Kupjansk mit Feuerwerken“, schimpft Igor Strelkow, ehemaliger Donbass-Kommandeur, im sozialen Netz Vkontakte. Er und andere kommentieren seit Tagen die militärische Lage im Süden der ukrainischen Region Charkiw mit Entsetzen. „Heute ist ein Tag der nationalen Schande“, so der Telegramkanal Cholmogorow. „Das ist nicht das Ende, Russland hat ganz andere Schändlichkeiten überstanden. Aber die Nacht wird lange und dunkel.“
Cholmogorow und der Kanal Voenkor Kotenok Z meldeten gestern sogar, die russischen
Truppen seien dabei, das Gebiet Charkiw komplett zu räumen. Am Montag hatten die Ukrainer dort eine Gegenoffensive gestartet, am Freitag bestätigten auch Moskaus Blogger, dass der Feind Balaklija zurückerobert, gestern, dass er den 62 Kilometer nordöstlich gelegenen Verkehrsknotenpunkt Kupjansk erreicht hat. „Viele glauben, das ist der Anfang vom Ende“, schrieb der Kanal „Partizan“.
Das offizielle Russland aber nimmt die Ereignisse nur begrenzt wahr. Verteidigungsminister Sergei Schoigu gratulierte der Armee gestern zum „Tag der Panzertruppen“, deren Soldaten in der Ukraine „exakt und kompetent“agierten. Jedoch soll der Kreml laut darüber nachdenken, die für November in den besetzten ukrainischen Regionen geplanten Volksentscheide für einen Beitritt zu
Russland auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Tschetschenenchef Ramsan Kadyrow verlangte gestern gravierende militärische Änderungen in der Ukraine. „Sonst bin ich gezwungen, mit der Führung des Landes zu reden, um ihr die Lage zu erklären.“Gleichzeitig versicherte er, alle verlorenen Städte würden zurückerobert.
Die rechte Bloggerszene fordert von den Politikern eine Generalmobilmachung. „Aber der Kreml will keine kriegsbegeisterten, bewaffneten Massen, die könnten ihm selbst gefährlich werden“, sagt der Politologe Juri Korgonjuk. „Und die Bürger, die den Ukraine-Feldzug unterstützen, betrachten ihn als Fußballspiel, das man vor dem Fernseher gewinnen kann.“
Laut Voenkor Kotenok Z wurde auch die Grenzstadt Woltschansk aufgegeben. „Die Front verläuft jetzt entlang der Grenze zur (russischen) Region Belgorod“. Dieser Rückzug sei eine politische Entscheidung, die bedeute, dass Charkiw nicht zu Russland gehöre, schimpft Cholmogorow. „Scham und Schande sind nicht mit Worten auszudrücken.“Am Abend dann die Meldung, dass die Russen auch Cherson im Süden fliehen.