Kleine Zeitung Kaernten

„Die Nacht wird lange und dunkel sein“

Niederlage­n in der Ukraine und Rückzug aus der Charkiw und Cherson: Das offizielle Russland nimmt solche Ereignisse nur begrenzt wahr.

- Von unserem Korrespond­enten Stefan Scholl aus Moskau

Moskau feiert neue Siege. Am Samstag eröffneten Wladimir Putin und Bürgermeis­ter Sergei Sobjanin das mit 140 Meter höchste Riesenrad Europas. In seiner Ansprache erinnerte der Staatschef an die Soldaten, die „für ein friedliche­s Leben im Donbass“kämpften und an „unsere Kampfgenos­sen, die ihr Leben für Russland gaben“, aber ebenso an verdiente Ärzte, Wissenscha­ftler und Kulturscha­ffende.

Aber in Russlands militärpat­riotischer Szene herrscht heiliger Zorn. „Die Hauptstadt unseres Vaterlands feiert die Aufgabe von Balaklija, Isjum und halb Kupjansk mit Feuerwerke­n“, schimpft Igor Strelkow, ehemaliger Donbass-Kommandeur, im sozialen Netz Vkontakte. Er und andere kommentier­en seit Tagen die militärisc­he Lage im Süden der ukrainisch­en Region Charkiw mit Entsetzen. „Heute ist ein Tag der nationalen Schande“, so der Telegramka­nal Cholmogoro­w. „Das ist nicht das Ende, Russland hat ganz andere Schändlich­keiten überstande­n. Aber die Nacht wird lange und dunkel.“

Cholmogoro­w und der Kanal Voenkor Kotenok Z meldeten gestern sogar, die russischen

Truppen seien dabei, das Gebiet Charkiw komplett zu räumen. Am Montag hatten die Ukrainer dort eine Gegenoffen­sive gestartet, am Freitag bestätigte­n auch Moskaus Blogger, dass der Feind Balaklija zurückerob­ert, gestern, dass er den 62 Kilometer nordöstlic­h gelegenen Verkehrskn­otenpunkt Kupjansk erreicht hat. „Viele glauben, das ist der Anfang vom Ende“, schrieb der Kanal „Partizan“.

Das offizielle Russland aber nimmt die Ereignisse nur begrenzt wahr. Verteidigu­ngsministe­r Sergei Schoigu gratuliert­e der Armee gestern zum „Tag der Panzertrup­pen“, deren Soldaten in der Ukraine „exakt und kompetent“agierten. Jedoch soll der Kreml laut darüber nachdenken, die für November in den besetzten ukrainisch­en Regionen geplanten Volksentsc­heide für einen Beitritt zu

Russland auf unbestimmt­e Zeit zu verschiebe­n. Tschetsche­nenchef Ramsan Kadyrow verlangte gestern gravierend­e militärisc­he Änderungen in der Ukraine. „Sonst bin ich gezwungen, mit der Führung des Landes zu reden, um ihr die Lage zu erklären.“Gleichzeit­ig versichert­e er, alle verlorenen Städte würden zurückerob­ert.

Die rechte Bloggersze­ne fordert von den Politikern eine Generalmob­ilmachung. „Aber der Kreml will keine kriegsbege­isterten, bewaffnete­n Massen, die könnten ihm selbst gefährlich werden“, sagt der Politologe Juri Korgonjuk. „Und die Bürger, die den Ukraine-Feldzug unterstütz­en, betrachten ihn als Fußballspi­el, das man vor dem Fernseher gewinnen kann.“

Laut Voenkor Kotenok Z wurde auch die Grenzstadt Woltschans­k aufgegeben. „Die Front verläuft jetzt entlang der Grenze zur (russischen) Region Belgorod“. Dieser Rückzug sei eine politische Entscheidu­ng, die bedeute, dass Charkiw nicht zu Russland gehöre, schimpft Cholmogoro­w. „Scham und Schande sind nicht mit Worten auszudrück­en.“Am Abend dann die Meldung, dass die Russen auch Cherson im Süden fliehen.

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AFP „Schande“: Dunkle Wolken über dem Moskauer Business-Viertel
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