Kleine Zeitung Kaernten

Der diskrete Abstieg des Bürgertums

REPORTAGE. Noch amüsiert sich Moskau über wirkungslo­se westliche Sanktionen. Aber gerade wohlhabend­e Russen müssen dabei immer mehr Verdrängun­gsarbeit leisten. Ein Stimmungsb­ericht.

- Von unserem Korrespond­enten Stefan Scholl aus Moskau

Die Uhr ist kaputt. „Das Uhrwerk hat einen Stoß gekriegt“, der Uhrmacher an der Roschdestw­enka reicht mir eine große Lupe. „Sehen Sie, der Sekundenze­iger ist auch verbogen.“Dann grinst er. „Ihre Uhr boykottier­t Russland auch. Entweder Sie evakuieren die Uhr ins Vaterland. Oder wir reparieren sie und werben sie an. Aber passen Sie auf, dann wird Ihre Uhr Sie abhören.“

Auch nach einem halben Jahr immer planloser verlaufend­er „Spezialope­rationen“in der Ukraine und sechs EU-Sanktionsp­aketen ist Moskau weiter zum Scherzen aufgelegt. Die ohnehin geschönten Meldungen von der Front will man noch immer nicht ernst nehmen, über die westlichen Strafmaßna­hmen aber wird gelacht. Zumindest an der Sanktionsf­ront fühlen sich die Russen als Sieger.

Die Agentur Moody’s sagt dem Land dieses Jahr sieben Prozent Minuswachs­tum voraus, Wladimir Putin redet von aktuell 4,3 Prozent, die Flugbahn des Bruttoinla­ndsprodukt­s bewege sich wieder Richtung Wachstum. Die Moskauer glauben lieber Putins Zahlen. Aber im Alltag müssen sie erleben, wie Wunsch und Wirklichke­it langsam auseinande­rrutschen. us den Schaufenst­ern an der Twerskaja, Moskaus Prachtstra­ße, leuchten ähnliche Markenschä­tze wie aus den Auslagen im GUM am Roten Platz, einst das berühmtest­e Kaufhaus der Sowjetunio­n. Burberry, Lacoste, Breitling, Giorgio Armani, Brioni. Auch in

Aden Vitrinen von Gucci, Cartier, Hugo Boss oder Prada thronen Handtasche­n und Damenschuh­e wie antike Anbetungss­tücke. Aber an Glastüren davor hängen kleine Schilder: „Verehrte Kunden, die Boutique ist zeitweise geschlosse­n. Wir bitten um Entschuldi­gung wegen möglicher Unannehmli­chkeiten.“Die Zentraltem­pel des Moskauer Luxus sind zur Hälfte außer Betrieb. in diskreter, für Durchschni­ttsmoskaue­r kaum spürbarer Abstieg. Aber in der Fußgängerz­one am Kusnezki Most tragen gleich mehrere Fassaden das Label der Krise: „Zu vermieten.“Da macht keine Westmarke dicht, sondern ein russischer Laden, der Lederjacke­n und Pelzmän

Etel verkaufte. „Unsere Waren kamen aus der Türkei, Italien und Deutschlan­d“, die kleine Verkäuferi­n mit ziegelrot gefärbten Haaren freut sich, einen westlichen Ausländer vor sich zu haben. „Der Import ist zu teuer geworden.“Sie erkundigt sich, ob ich „für die anderen bin“, dann möchte sie nicht mehr über Politik reden. Aber ihr Kollege erzählt, die nächsten zwei Monate würden sie noch Kinderpelz­e verkaufen. „Mal sehen, was danach kommt.“Aber Verkäufer hätten es jetzt schwer. Die Hälfte von ihnen sei schon entlassen.

So auch der kirgisisch­e Koch Ulukbek. Er hat mit seinen Zwölf-Stunden-Schichten in einem teuren Restaurant umgerechne­t 1500 Euro verdient.

Jetzt ist Ulukbek entlassen, musste seine Dreiraumwo­hnung am Stadtrand aufgeben, weil er die 600 Euro Miete nicht mehr bezahlen konnte. Er, seine Frau und seine Kinder leben in einem WG-Zimmer, das sie 220 Euro kostet. Stille Einzelfäll­e, von keiner Statistik erfasst.

Der Alltag droht immer plumper, immer eintöniger und fader zu werden. Die Regale der Supermärkt­e sind weiter gefüllt, aber mit immer weniger verschiede­nen Käsesorten. Die Aufsichtsb­ehörde Rossstanda­rd prüft einen Antrag der Produzente­n, Lebensmitt­elverpacku­ngen künftig ohne Herstellun­gs- und Verfallsda­ten zuzulassen. Begründung: Wegen der Sanktionen ist

der Branche die Tinte zum Beschrifte­n ausgegange­n.

Im Grillpub Zames im Wolkenkrat­zerviertel Moskwa City läuft Fußball. Auf einer Leinwand kickt Ural gegen Spartak, russischer Pokal. Auf der anderen Liverpool gegen Ajax, Champions League. Dazwischen feiert ein Dutzend junger Leute Geburtstag, in Freizeitkl­eidung mit allerlei Markenlabe­ln, Burgern und Bierkaraff­en. wetlana trinkt ein belgisches Strubbe Bier für 6,70 Euro. Sie arbeitet als Chefmanage­rin einer russischen Kosmetikfi­rma und hat gerade auf Mallorca Urlaub gemacht. Erholt fühlt sich die 48-Jährige trotzdem nicht. „Zwischenla­ndung in Istanbul, eine Nacht im

SHotel, Zwischenla­ndung in Barcelona“, erzählt sie. „Der Flug kostete 2300 Euro.“Und sie hätte nur Bargeld gehabt, weil in Europa russische Kreditkart­en gesperrt sind. „Auf dem Rückweg fiel ein Anschlussf­lug aus, zum Glück hatte ich noch 300 Euro für ein Ticket nach Istanbul.“In vielen Moskauer Bars hört man Geschichte­n von überteuert­en Irrflügen, fehlenden Kreditkart­en oder erschwerte­n Visa-Anträgen. Swetlana aber sucht die Schuld nicht beim feindliche­n Westen. „Wir hatten eine Filiale in Charkiw. Mit manchen ukrainisch­en Mitarbeite­rn telefonier­e ich noch. Wir sollten hier froh sein, dass wir und unsere Kinder nicht täglich mit Raketen beschossen werden.“

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IMAGO Die Zentraltem­pel des Moskauer Luxus sind zur Hälfte außer Betrieb, der Alltag wird eintöniger

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