Der diskrete Abstieg des Bürgertums
REPORTAGE. Noch amüsiert sich Moskau über wirkungslose westliche Sanktionen. Aber gerade wohlhabende Russen müssen dabei immer mehr Verdrängungsarbeit leisten. Ein Stimmungsbericht.
Die Uhr ist kaputt. „Das Uhrwerk hat einen Stoß gekriegt“, der Uhrmacher an der Roschdestwenka reicht mir eine große Lupe. „Sehen Sie, der Sekundenzeiger ist auch verbogen.“Dann grinst er. „Ihre Uhr boykottiert Russland auch. Entweder Sie evakuieren die Uhr ins Vaterland. Oder wir reparieren sie und werben sie an. Aber passen Sie auf, dann wird Ihre Uhr Sie abhören.“
Auch nach einem halben Jahr immer planloser verlaufender „Spezialoperationen“in der Ukraine und sechs EU-Sanktionspaketen ist Moskau weiter zum Scherzen aufgelegt. Die ohnehin geschönten Meldungen von der Front will man noch immer nicht ernst nehmen, über die westlichen Strafmaßnahmen aber wird gelacht. Zumindest an der Sanktionsfront fühlen sich die Russen als Sieger.
Die Agentur Moody’s sagt dem Land dieses Jahr sieben Prozent Minuswachstum voraus, Wladimir Putin redet von aktuell 4,3 Prozent, die Flugbahn des Bruttoinlandsprodukts bewege sich wieder Richtung Wachstum. Die Moskauer glauben lieber Putins Zahlen. Aber im Alltag müssen sie erleben, wie Wunsch und Wirklichkeit langsam auseinanderrutschen. us den Schaufenstern an der Twerskaja, Moskaus Prachtstraße, leuchten ähnliche Markenschätze wie aus den Auslagen im GUM am Roten Platz, einst das berühmteste Kaufhaus der Sowjetunion. Burberry, Lacoste, Breitling, Giorgio Armani, Brioni. Auch in
Aden Vitrinen von Gucci, Cartier, Hugo Boss oder Prada thronen Handtaschen und Damenschuhe wie antike Anbetungsstücke. Aber an Glastüren davor hängen kleine Schilder: „Verehrte Kunden, die Boutique ist zeitweise geschlossen. Wir bitten um Entschuldigung wegen möglicher Unannehmlichkeiten.“Die Zentraltempel des Moskauer Luxus sind zur Hälfte außer Betrieb. in diskreter, für Durchschnittsmoskauer kaum spürbarer Abstieg. Aber in der Fußgängerzone am Kusnezki Most tragen gleich mehrere Fassaden das Label der Krise: „Zu vermieten.“Da macht keine Westmarke dicht, sondern ein russischer Laden, der Lederjacken und Pelzmän
Etel verkaufte. „Unsere Waren kamen aus der Türkei, Italien und Deutschland“, die kleine Verkäuferin mit ziegelrot gefärbten Haaren freut sich, einen westlichen Ausländer vor sich zu haben. „Der Import ist zu teuer geworden.“Sie erkundigt sich, ob ich „für die anderen bin“, dann möchte sie nicht mehr über Politik reden. Aber ihr Kollege erzählt, die nächsten zwei Monate würden sie noch Kinderpelze verkaufen. „Mal sehen, was danach kommt.“Aber Verkäufer hätten es jetzt schwer. Die Hälfte von ihnen sei schon entlassen.
So auch der kirgisische Koch Ulukbek. Er hat mit seinen Zwölf-Stunden-Schichten in einem teuren Restaurant umgerechnet 1500 Euro verdient.
Jetzt ist Ulukbek entlassen, musste seine Dreiraumwohnung am Stadtrand aufgeben, weil er die 600 Euro Miete nicht mehr bezahlen konnte. Er, seine Frau und seine Kinder leben in einem WG-Zimmer, das sie 220 Euro kostet. Stille Einzelfälle, von keiner Statistik erfasst.
Der Alltag droht immer plumper, immer eintöniger und fader zu werden. Die Regale der Supermärkte sind weiter gefüllt, aber mit immer weniger verschiedenen Käsesorten. Die Aufsichtsbehörde Rossstandard prüft einen Antrag der Produzenten, Lebensmittelverpackungen künftig ohne Herstellungs- und Verfallsdaten zuzulassen. Begründung: Wegen der Sanktionen ist
der Branche die Tinte zum Beschriften ausgegangen.
Im Grillpub Zames im Wolkenkratzerviertel Moskwa City läuft Fußball. Auf einer Leinwand kickt Ural gegen Spartak, russischer Pokal. Auf der anderen Liverpool gegen Ajax, Champions League. Dazwischen feiert ein Dutzend junger Leute Geburtstag, in Freizeitkleidung mit allerlei Markenlabeln, Burgern und Bierkaraffen. wetlana trinkt ein belgisches Strubbe Bier für 6,70 Euro. Sie arbeitet als Chefmanagerin einer russischen Kosmetikfirma und hat gerade auf Mallorca Urlaub gemacht. Erholt fühlt sich die 48-Jährige trotzdem nicht. „Zwischenlandung in Istanbul, eine Nacht im
SHotel, Zwischenlandung in Barcelona“, erzählt sie. „Der Flug kostete 2300 Euro.“Und sie hätte nur Bargeld gehabt, weil in Europa russische Kreditkarten gesperrt sind. „Auf dem Rückweg fiel ein Anschlussflug aus, zum Glück hatte ich noch 300 Euro für ein Ticket nach Istanbul.“In vielen Moskauer Bars hört man Geschichten von überteuerten Irrflügen, fehlenden Kreditkarten oder erschwerten Visa-Anträgen. Swetlana aber sucht die Schuld nicht beim feindlichen Westen. „Wir hatten eine Filiale in Charkiw. Mit manchen ukrainischen Mitarbeitern telefoniere ich noch. Wir sollten hier froh sein, dass wir und unsere Kinder nicht täglich mit Raketen beschossen werden.“