Mein Dorf, der Friedhof
Das Leben unter russischer Besatzung und was davon übrig bleibt.
Die ukrainische Fotografin Zhenya Laptii gibt Einblicke in die Lebensrealität ihres Landes.
Am 24. Februar bin ich um fünf Uhr in der Früh von Explosionsgeräuschen aufgewacht. Ich kann mich erinnern, dass das die schrecklichsten Minuten meines Lebens waren. Später, wenn du unter Besatzung bist, gewöhnst du dich an Bomben, und die Angst weicht. Das Überlebensprogramm schaltet ein. Es ergab sich so, dass ich kurz zuvor aus Kiew, wo ich lebte, zu meinen Großeltern in die Region Charkiw zu Besuch gekommen war. Unser Dorf befindet sich unweit der Grenze zu Russland. Eine Stunde nach Kriegsbeginn wurde es besetzt.
Ich lebte 20 Tage unter russischer Besatzung. Am 15. März wurde unser Haus von einem Geschoss getroffen. Vor meinen Augen zerbarsten die Fenster, ein Teil des Hauses wurde zerstört. Daher haben wir uns entschieden, aus der Besatzungszone über die russische Grenze zu fliehen. Der Weg nach Charkiw wurde vom russischen
Militär versperrt, alle, die versuchten, in die Stadt zu gelangen, wurden erschossen. Daher musste ich anstatt 15 Kilometer – das ist die Entfernung von Charkiw bis zu meinem Dorf – 5454
Kilometer fahren, fünf europäische Länder durchqueren, um zurück in die Ukraine zu gelangen.
Meine Großeltern wollten nicht weg, daher bin ich allein geflohen. Lange Zeit hatten wir keinen Kontakt, aber wir wussten, dass sie am Leben sind. Mitte Mai begann die ukrainische Gegenoffensive und unser Dorf wurde von den russischen Invasoren befreit. Mein Opa und meine Oma wurden gerettet, jetzt sind sie in Charkiw bei Verwandten. Zuletzt war unser Dorf in der „grauen Zone“, an der die Frontlinie verläuft. Jeden Tag wurde es von Hunderten Raketen zerstört. Ich glaube nicht, dass ich jemals dorthin zurückkommen kann, und wenn, dann wird es nicht mehr mein Dorf sein, sondern ein Friedhof.