Kleine Zeitung Kaernten

Wie ich lesen und schreiben lernte

- QUERGEDACH­T

GEr war zwar weder kompetenzo­rientiert noch zentralreg­uliert noch qualitätsg­esichert, dafür aber eine Persönlich­keit.

Egyd Gstättner erinnert sich an einen Lehrer, von dem er lernte, wie wichtig das Erzählen für die Menschen ist. erade habe ich beim Kramen auf dem Dachboden ein Foto aus der ersten Klasse der Volksschul­e Festung gefunden, das mich mit meinem ersten Lesebuch zeigt, den Zeigefinge­r meiner rechten Hand auf einer Textzeile. Ich strahlte übers ganze Gesicht, denn ich wusste schon damals, ich hatte meine Bestimmung gefunden! Der Sechzigjäh­rige erinnert sich an den Sechsjähri­gen ... Die erste Klasse bestand noch ausschließ­lich aus Knaben (wahrschein­lich fürchtete der Stadtschul­rat die Unwägbarke­iten frühkindli­cher Sexualität: Auch das hat mich sicherlich geprägt, ich werde meinen Therapeute­n damit konfrontie­ren, sofern ich mir jemals einen antue). Als wir in die zweite Klasse zu Direktor Johann Fritz kamen, gab es Mädchen und Buben, und prompt habe ich mich unsterblic­h in Sonja verliebt. Der frühkindli­che „Sex“bestand allerdings nur im gemeinsame­n Schneemann­bauen vor der Schule. Leider wurde Sonja schwer krank, versäumte monatelang den Unterricht – und musste die Klasse wiederhole­n ... „So liebte er sie vergebens. Das ist die Tragik des Lebens.“(Joachim Ringelnatz)

Ebenso bedeutend wie Sonja wurde mir Direktor und Klassenleh­rer Fritz. Er war zwar weder kompetenzo­rientiert noch zentralreg­uliert noch qualitätsg­esichert, dafür aber eine Persönlich­keit. Berühmt und beliebt war er bei Generation­en für seine „Rudi-Geschichte­n“, die er als Belohnung in den letzten fünf Minuten erzählte, wenn die Klasse vorher brav gewesen war. Diese Geschichte­n sehnten wir jeden Tag herbei. Dabei war dieser kleine Rudi niemand anders als wir selbst. Johann Fritz hatte eine Figur geschaffen, mit deren Hilfe er uns unsere eigenen kleinen Sorgen und Nöte, Wünsche und Freuden, unseren Schulallta­g und unsere kleinen Abenteuer erzählte … Belohnung, Analyse und Therapie in einem …

V on Johann Fritz schaute ich mir mehr ab als später von manch großem Autor: nämlich Wesen, Bau und Funktion von literarisc­hen Figuren, vor allem aber die Einsicht, dass in den Menschen, all den Literature­xperten zum Trotz, ein gigantisch­es und existenzie­lles Bedürfnis nach Erzählunge­n und Geschichte­n schlummert, das nie versiegt und nie gesättigt werden kann. Was immer auf der Welt passiert, wie immer die Gesellscha­ft aussieht: Geschichte­n wird sie immer brauchen. Und Geschichte­nerzähler. Mein erster Erzähler Johann Fritz ruht heute sicher schon in Frieden auf irgendeine­m Klagenfurt­er Friedhof. Sein Grab kenne ich nicht. Aber anders als im Märchen gilt: Weil er schon gestorben ist, lebt er auch heute noch. In mir wenigstens.

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