Die wirre Welt des Zaren
Wladimir Putin hat im Kreml-Festsaal feierlich die besetzten Gebiete der Ukraine eingemeindet. Dem Westen warf er vehement Neokolonialismus vor.
Erst attackierte Wladimir Putin im Georgssaal den „Neokolonialismus“des Westens“, dann veranstaltete er selbst Annexion. Er unterzeichnete gestern im Kreml Beitrittsverträge (siehe Bild oben), mit denen Russland vier Besatzungsgebiete in der Ostukraine zu seinem eigenen Staatsterritorium erklärt. Die prorussischen Führer der Separatistenrepubliken Donezk und Luhansk sowie die Leiter der „militär-zivilen Verwaltungen“in den Besatzungsgebieten in Cherson und Saporischschja zeichneten gegen. Mehrere Hundert Spitzenbeamten und Parlamentarier klatschten stehend Ovationen.
In seiner 45-minütigen Rede zuvor hatte Putin das „Kiewer Regime“zur Einstellung der Kämpfe und
Verhandlungen aufgerufen. Aber die „Wahl der Menschen“bei den Volksabstimmungen in den besetzten Gebieten werde Russland nicht mehr diskutieren. Und man werde das neue Staatsgebiet mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen.
Laut Putin führt der Westen einen hybriden Krieg gegen Russland, hat dabei auch die Nord Stream Pipeline durchlöchert. „Den Angelsachsen reichen allein Sanktionen nicht mehr, sie sind zur Sabotage übergegangen – unglaublich, aber Fakt.“
Die Aufnahme der okkupierten Gebiete ist eine illegale Annexion, die wir nie akzeptieren können. Bundespräsident Alexander Van der Bellen
Putins Zorn nährte sich diesmal wohl vor allem aus den internationalen Reaktionen auf die Ankündigung der gestrigen Annexion. „Ohne jede Rechtskraft“, fasste UNO-Generalsekretär António Guterres das Urteil der
internationalen Öffentlichkeit vor dem Schauspiel im Kreml zusammen.
Jedenfalls veranstaltet Russland eine sehr seltsame Annexion. Noch zu Beginn seiner „Kriegsspezialoperation“versicherte Putin, man plane nicht, ukrainisches Gebiet zu besetzen. Jetzt eignet sich der mit 17.1 Millionen Quadratkilometer weltgrößte Flächenstaat vier Regionen der Ukraine mit zusammen 109.000 Quadratkilometern an. Allerdings nur auf dem Papier. Auf 30 Prozent dieser Gebiete steht nach wie vor die ukrainische Armee. Wohl zum ersten Mal in der Geschichte nimmt ein Staat feierlich Land in Besitz, auf das er keinen Zugriff hat, außer mit Ferngeschossen. In der ukrainisch kontrollierten Gebietshauptstadt Saporischschja starben unterdessen 30 Menschen bei einem russischen Raketenangriff.
Aber auch die besetzten Gebiete sind Schlachtfeld, russische Truppen dort in der Defensive. Ausgerechnet gestern sollen die Ukrainer laut dem amerikanischen Institut für Kriegsstudien die russischen Verteidiger der Stadt Lyman im Norden der Region Donezk eingekesselt haben. Eine neue Schlappe droht. Putin steht unter Druck, nicht nur militärisch. Seine Zustimmungsrate fiel vor allem nach der von ihm verkündeten Mobilmachung.
Putin ist nach Ansicht kremlkritischer Medien gezwungen, Stärke zu zeigen. „Er versucht, Angst zu verbreiten. Wir haben diese Gebiete angeschlossen, sie gehören jetzt uns“, deutet der Politologe Juri Korgonjuk Putins Argumente. „Die ukrainischen Gruppen dort greifen also unser Staatsgebiet an, deshalb haben wir das Recht, auch Atomwaffen einzusetzen.“Putin wolle vor allem den nervenschwachen Westen einschüchtern.
Bei der Feierstunde im Kreml verzichtete der Staatschef allerdings darauf, Europa oder dem Westen direkt zu drohen. „Wir kämpfen darum, dass es niemandem mehr in den Kopf kommt, unser Volk und unsere Kultur aus der Geschichte zu streichen“, wandte er sich am Ende an das vaterländische Publikum. „Hinter uns steht die Wahrheit, hinter uns steht Russland.“