Ernst jetzt!
Über Herden, Herbstfeste und fremde Freunde
Dem Zoologen Desmond Morris verdanken wir die Einsicht, dass der Urmensch in einer Herde von rund 100 Tieren lebte. Jeder darüber hinausgehende Bekanntenkreis erzeugt sozialen Stress, sagt der Forscher, und das kann ich bestätigen. Auf Partys und Empfängen grüßen mich ständig Menschen, die ich irgendwie kenne, ohne sie auch nur irgendwie zu kennen. Manche erzählen mir detailreich von gemeinsamen Erlebnissen, obwohl ich unter Eid schwören könnte, sie noch nie gesehen zu haben. Meist ist mir auch unklar, ob ich mit diesen befremd
lich befreundeten Fremden per Sie oder per Du bin. Täglich beneide ich die englischsprachige Welt um das „you“.
D er Schriftsteller Ephraim Kishon, der unter ähnlichen Phantomschmerzen litt, entwickelte einst ein Verfahren, um beim Small Talk durch taktisches Nachfragen unauffällig herauszukriegen, wer sein Gesprächspartner eigentlich ist. Die erste Frage lautete immer: „Wie geht’s?“Ich halte mich streng an diese Methode. Wenn ich weiß, dass ich gar nichts weiß, murmle ich verbindlich die unverbindliche Floskel: „Wie läuft’s bei euch?“
Meine Trefferquote ist dennoch so gering, dass feiges Schweigen einem forschen Vorstoß allemal vorzuziehen ist. Als ich kürzlich bei einem Herbstfest einen umstehenden Unbekannten endlich umständlich erkannte, war ich so stolz, dass ich mich an seine junge, blonde Begleiterin wandte und tollkühn behauptete: „Wir kennen uns ja aus dem Vorjahr!“Sofort verdunkelte sich ihre Miene und es wehte ein eisiger Hauch durch den Raum, als sie in schneidendem Ton erwiderte: „Das glaube ich kaum.“Da nahm ich mir fest vor, auf Festen nie wieder mit wem zu reden.