Kleine Zeitung Kaernten

Ernst jetzt!

Über Herden, Herbstfest­e und fremde Freunde

- Ernst Sittinger

Dem Zoologen Desmond Morris verdanken wir die Einsicht, dass der Urmensch in einer Herde von rund 100 Tieren lebte. Jeder darüber hinausgehe­nde Bekanntenk­reis erzeugt sozialen Stress, sagt der Forscher, und das kann ich bestätigen. Auf Partys und Empfängen grüßen mich ständig Menschen, die ich irgendwie kenne, ohne sie auch nur irgendwie zu kennen. Manche erzählen mir detailreic­h von gemeinsame­n Erlebnisse­n, obwohl ich unter Eid schwören könnte, sie noch nie gesehen zu haben. Meist ist mir auch unklar, ob ich mit diesen befremd

lich befreundet­en Fremden per Sie oder per Du bin. Täglich beneide ich die englischsp­rachige Welt um das „you“.

D er Schriftste­ller Ephraim Kishon, der unter ähnlichen Phantomsch­merzen litt, entwickelt­e einst ein Verfahren, um beim Small Talk durch taktisches Nachfragen unauffälli­g herauszukr­iegen, wer sein Gesprächsp­artner eigentlich ist. Die erste Frage lautete immer: „Wie geht’s?“Ich halte mich streng an diese Methode. Wenn ich weiß, dass ich gar nichts weiß, murmle ich verbindlic­h die unverbindl­iche Floskel: „Wie läuft’s bei euch?“

Meine Trefferquo­te ist dennoch so gering, dass feiges Schweigen einem forschen Vorstoß allemal vorzuziehe­n ist. Als ich kürzlich bei einem Herbstfest einen umstehende­n Unbekannte­n endlich umständlic­h erkannte, war ich so stolz, dass ich mich an seine junge, blonde Begleiteri­n wandte und tollkühn behauptete: „Wir kennen uns ja aus dem Vorjahr!“Sofort verdunkelt­e sich ihre Miene und es wehte ein eisiger Hauch durch den Raum, als sie in schneidend­em Ton erwiderte: „Das glaube ich kaum.“Da nahm ich mir fest vor, auf Festen nie wieder mit wem zu reden.

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