Kann Religion den Krieg gutheißen?
Prominente aus aller Welt rufen zum Schulterschluss der Religionen für den Frieden auf. Einer der Initiatoren ist Paul Zulehner. Hier geht der Wiener Theologe der Frage nach, ob es einen gerechten Krieg geben kann.
Am 24. Februar 2022 hat die Russische Föderation auf Betreiben ihres Präsidenten Wladimir Putin die Ukraine angegriffen. Am Morgen dieses Tages fand noch eine Onlinekonferenz an der griechisch-katholischen Universität in Lemberg statt. Peter McCormick vom Institut International de Philosophie in Paris sagte in seinem Beitrag: „We are living in a tumbling world“– Wir leben in einer taumelnden Welt.
Es sind viele Krisen, welche die Welt taumeln lassen: Kriege, Klimakrise, Migration, hoffnungslose Armut. Sie bedrohen die Menschheit gleichzeitig. Das macht Angst. Zugleich halten viele nach Quellen Ausschau, die Hoffnung geben. Nicht wenige zählen die Religionen dazu.
Aber sind die Religionen, wie Annette Schavan, die ehemalige Bundesministerin für Bildung und Forschung aus Deutschland, Tomáˇs Halík, Theologe und Soziologe aus Prag, und ich in dem Aufruf „Religionen – Hoffnung in einer taumelnden Welt“geschrieben haben, nicht oft eher Teil des Problems statt Teil der Lösung (Papst Franziskus)? Hat das Christentum in seiner langen Geschichte nicht zu oft Gewalt mit Gott gerechtfertigt? Leidet nicht auch der Islam unter der tragischen Verbindung von Allah und Terror? Und macht nicht der Moskauer Patriarch Kyrill I. denselben fatalen Fehler, dass er den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg des Machthabers der Russischen Föderation religiös unterstützt?
Bei der Geburt Jesu verkünden Engeln den Frieden auf Erden (Lk 2,14). Jesus preist die Friedensstifter selig (Mt 5,9). Jesaia und Micha erzählen, dass am Ende der Tage die Menschen die Schwerter zu Pflugscharen umschmieden werden. Kein Volk mehr wird für den Krieg üben (Jes 2,2-5, Mi 4,1–3). Das Reich Gottes, das Jesus bringt, ist ein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens. Die Kirche ist berufen, an das Kommen des Reiches Gottes in die Geschichte zu erinnern und voranzutreiben. Sie ist Gottes Friedensbewegung auf Erden, wenn sie ihren Auftrag nicht verrät.
Aber ist das nicht nur eine schöne Vision für das Ende der Zeiten? Gibt es auf dem Weg zu ihrer Erfüllung nicht unvermeidlich Kriege? Für die katholische Lehre jedenfalls steht fest, dass jeder Krieg ein dämonisches Übel ist. Kann es aber nicht Situationen geben, in denen ein „Krieg“als kleineres Übel dennoch gerechtfertigt sein kann? Hat nicht die angegriffene Ukraine ein Recht, sich zu verteidigen? Gibt es also nicht wenigstens einen gerechten Verteidigungskrieg?
Augustinus nannte Kriterien, unter den ein (Verteidigungs-)Krieg „gerecht“sein kann. Das Zweite Vatikanische Konzil forderte, dass in einem „rechtfertigbaren“Krieg das sittliche Gesetz einzuhalten ist. Nicht jedes
Kampfmittel sei erlaubt (Gaudium et Spes 79,4). „Die Zivilbevölkerung, die verwundeten Soldaten und die Kriegsgefangenen sind zu achten und mit Menschlichkeit zu behandeln. Handlungen, die mit Wissen und Willen gegen das Völkerrecht und seine allgemeingültigen Grundsätze verübt werden, sowie Befehle, solche Handlungen auszuführen, sind Verbrechen. Jede Kriegshandlung, die auf die Vernichtung ganzer Städte oder weiter Gebiete und ihrer Bevölkerung unterschiedslos abstellt, ist ein Verbrechen gegen Gott und gegen den Menschen, das fest und entschieden zu verwerfen ist (GS 80,4).
Im Katechismus der Katholischen Kirche (2309) sind „Bedingungen, unter denen es einem Volk gestattet ist, sich in Notwehr militärisch zu verteidigen“aufgelistet: Dort heißt es: „Der Gebrauch von Waffen darf nicht
Schäden und Wirren mit sich bringen, die schlimmer sind als das zu beseitigende Übel.“
An der Erfüllbarkeit des letzten Kriteriums zweifelt Papst Franziskus: „Der springende Punkt ist, dass durch die Entwicklung nuklearer, chemischer und biologischer Waffen und den enormen wachsenden Möglichkeiten der neuen Technologien, der Krieg eine außer Kontrolle geratene Zerstörungskraft erreicht hat, die viele unschuldige Zivilisten trifft.“Der Papst hält es deshalb heute sehr schwierig, von einem ‚gerechten Krieg‘ zu sprechen. (Fratelli tutti, 258)
Was aber können die Religionen tun? Und gar wir selbst? In Kasachstan haben sich die Führer aller Religionen zusammengetan und gemeinsam einen Friedensappell erlassen. Papst Franziskus war dabei. Religionsgemeinschaften müssen sich prüfen, ob nicht manche ihrer
Mitglieder, statt ihre Heiligen Schriften zu beachten, Aggression und Gewalt rechtfertigen. Es braucht Politikerinnen und Politiker, die sich – inspiriert durch den Gott des Friedens – für die Beendung aller Kriege einsetzen. Nicht zuletzt ist zu hoffen, dass Machthaber nicht nur Staaten, sondern Gott auch deren Herzen lenkt, worum wahrhaft Gläubige beten. Und wir alle können gegen Hass und für Versöhnung eintreten und damit im eigenen Bereich beginnen.
Im alten Rom hieß es: „Willst Du Frieden, bereite Dich für den Krieg!“Muss es heute nicht stattdessen – folgt man der biblischen Utopie – lauten: „Willst Du Frieden, sorge Dich um Gerechtigkeit!“Dann geht in Erfüllung: „Gerechtigkeit und Frieden küssen sich!“(Ps 85,11)