Ein Warnschuss für Brasiliens Demokratie
Amtsinhaber Bolsonaro schneidet im ersten Wahlgang trotz desaströser Bilanz gut ab. Nun geht er gar als Favorit in die Stichwahl.
Deutlich geringer als erwartet war der Abstand, mit dem Brasiliens Linke die Präsidentenwahl am Sonntag für sich entscheiden konnten. Ihr Kandidat Lula da Silva (48 Prozent) war zwar deutlich vor dem rechtsradikalen Amtsinhaber Jair Bolsonaro (43 Prozent). Das gute Abschneiden des Zweiten überrascht aber, da ihm Meinungsumfragen bei lediglich 36 Prozent verorteten. Bolsonaro gilt daher als eigentlicher Gewinner. Am 30 Oktober kommt es zu einer Stichwahl.
Bis dahin muss Lula den Unentschlossenen mehr anbieten als Nostalgie und die Erinnerung an die „goldenen Zeiten“, als er zwischen 2003 und 2011 regierte und es Brasilien und der Bevölkerung deutlich besser ging als jetzt. Der 76-Jährige muss vor allem sein Wirtschaftsprogramm konkretisieren und versuchen, die Menschen davon zu überzeugen, dass seine künftige Regierung nicht korrupt sein wird. Denn die Brasilianer nehmen Lula und seiner Arbeiterpartei PT noch immer die Korruption in seiner und der Amtszeit seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff übel.
Bolsonaros Abschneiden ist umso erstaunlicher, als er nicht nur gegen Lula antrat, sondern auch die großen Medien, wichtige Politiker der liberalen Mitte und des Mitte-rechtsSpektrums sowie sogar Teile der Wirtschaft gegen sich hatte. Man muss fürchten, dass ihm eine Öffnung zur Mitte weitere Stimmen bringen könnte. Der politische Vorteil liegt nach diesem Sonntag überraschend beim Amtsinhaber. Zumal er in gewisser Weise Recht behielt mit der Kritik an den Meinungsumfragen, die er als gefälscht und politisch motiviert bezeichnete. Experten erklären sich den unerwarteten Erfolg zum einen damit, dass viele „schweigenden“Wähler bei Umfragen ihre wahre Intention nicht preisgaben – oder sich schlicht nicht beteiligten. Vielen wird es auch unangenehm gewesen sein zuzugeben, dass sie für einen ungehobelten, abwertenden und aggressiven Politiker stimmen wollten.
Ein weiterer Grund für seine hohe Stimmenzahl könnte der Vormarsch der erzkonservativen Pfingstkirchen in den vergangenen Jahren sein, die massiv Werbung für Bolsonaro gemacht haben. Diese evangelikalen Kirchen sind inzwischen auch tief in die armen Bevölkerungsschichten eingedrungen.
Aber auch das reicht nicht aus, um zu erklären, wie ein Präsident mit einer derart desaströsen Bilanz so viele Menschen überzeugen konnte. Bolsonaro hat wiederholt mit einem Staatsstreich kokettiert, er hat Richter des Obersten Gerichtshofs, Frauen, indigene Völker und Journalisten beleidigt, hat eine Kampagne gegen Corona-Impfstoffe geführt, während fast eine Dreiviertelmillion Brasilianerinnen und Brasilianer an Covid starben. Und er hat das Amazonasgebiet der Gnade von Großgrundbesitzern und Goldgräbern ausgeliefert. Insofern war der Sonntag auch ein schlechter Tag für den globalen Klimaschutz.
Offensichtlich ist der aggressive Diskurs des ehemaligen Fallschirmkapitäns in den letzten vier Jahren tiefer in die kollektive DNA der Brasilianerinnen und Brasilianer eingesickert als gedacht. Die Saat des Bolsonarismus ist in der brasilianischen Gesellschaft aufgegangen. Lula warnte bereits während des Wahlkampfs: „Wir werden Bolsonaro besiegen, aber der Bolsonarismus wird weiterleben“. Im Moment ist nicht einmal Ersteres garantiert. Das Ergebnis vom Sonntag ist somit auch ein Warnschuss für die Demokratie im größten und wichtigsten Land Lateinamerikas. Fast die Hälfte Brasiliens Bürger stehen sich weitgehend unversöhnlich mit zwei völlig diametralen Visionen ihres Landes gegenüber.
Die gute Nachricht des Wahltages ist, dass es erstens weitgehend ruhig blieb und dass zweitens Bolsonaro nicht die Legitimität des Ergebnisses infrage stellte. Immerhin ein kleiner Gewinn für die Demokratie.