Kleine Zeitung Kaernten

Einberufun­g in der U-Bahn und unklare Grenzen

Paul Krisai

- @PaulKrisai

Die Tinte ist trocken, die Annexion offiziell, Putins neuestes Projekt ist vollbracht. Das flächenmäß­ig größte Land der Erde will künftig um vier Regionen größer sein als bisher: Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischs­chja seien nun „für immer“Russland, behauptete Wladimir Putin bei einem pompös inszeniert­en Festakt am Moskauer Roten Platz. Dass weder die Ukraine noch die internatio­nale Staatengem­einschaft diesen Landraub anerkennen, kümmert die russische Führung offenbar nicht.

Die Apparatsch­iks hinter den Kremlmauer­n wissen nicht einmal selbst, wo genau die angebliche­n neuen Grenzen der Russischen Föderation auf ukrainisch­em Gebiet nun verlaufen: Laut Kremlsprec­her Dmitri Peskow würden die Grenzen „im Dialog mit der Bevölkerun­g“festgelegt. Das heißt, niemand weiß derzeit, wo die Atommacht Russland anfängt und aufhört. Das ist ein historisch­er Moment, und es ist zutiefst besorgnise­rregend.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die staatsnahe­n Meinungsfo­rscher die ersten Umfragen publiziere­n werden, die dieser illegalen Gebietserw­eiterung eine überwältig­ende Zustimmung der Bevölkerun­g bescheinig­en. Was nichts daran ändert, dass die meisten Menschen in

berichtet über das Leben in Russland.

Seit 2021 leitet er das ORF-Korrespond­entenbüro in der russischen Hauptstadt Moskau.

Russland mit dieser Annexion wenig anfangen können.

Im Unterschie­d zur völkerrech­tswidrigen „Einglieder­ung“der Halbinsel Krim 2014, die nach demselben Drehbuch ablief, fehlt nun jedes historisch­e oder ideologisc­he Narrativ. Die Annexion sichert nicht einmal die russisch besetzten Territorie­n vor der ukrainisch­en Gegenoffen­sive ab, wie die kürzliche Rückerober­ung

von Lyman zeigt, einer strategisc­h wichtigen Stadt im Gebiet Donezk. ass die russische Bevölkerun­g Putins Expansions­wahn im Großen und Ganzen achselzuck­end hinnimmt, hat auch mit einem anderen Thema zu tun: der Mobilmachu­ng. Dass Putin sie als „Teilmobilm­achung“bezeichnet, nimmt der Masseneinb­erufung nichts an Sprengkraf­t: Familien

Dbangen im ganzen Land um ihre Söhne, Väter und Verwandten. Wer sich dem Kriegsdien­st entziehen will, dem bleibt nur, Russland zu verlassen (mindestens 300.000 Menschen sollen das bereits getan haben) – oder unterzutau­chen. Gerade in ärmeren Regionen in Sibirien und am Kaukasus werden wahllos Männer eingezogen. och selbst meine männlichen Freunde und Bekannten in Moskau, wo die „Spezialope­ration“bisher weit weg schien, öffnen inzwischen niemandem mehr die Wohnungstü­r. Es könnten ja die Herren von der Einberufun­gsbehörde sein. Viele meiden die U-Bahn, auch dort werden Einberufun­gsbefehle verteilt. Im Netz kursieren Tipps, wie man sich möglichst schmerzlos den Arm bricht, um als untauglich eingestuft zu werden. ur Vereinzelt­e wagen noch den Aufstand. Die Straßenpro­teste der vergangene­n Wochen wurden im Keim erstickt. Mit einer perfiden, neuen Unterdrück­ungsmethod­e: Viele Männer, die auf Protesten festgenomm­en werden, bekommen noch auf der Polizeiwac­he einen Einberufun­gsbefehl ausgehändi­gt. Wer Widerstand übt, wird erst recht an die Front geschickt.

DN

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APA Hunderttau­sende Russen haben aus Furcht vor einer Einberufun­g das Land bereits verlassen

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