Haarscharf vorbei am Bündnisfall der Nato
Die westlichen Verbündeten setzen nach dem tödlichen Zwischenfall in Polen auf Besonnenheit und Deeskalation: „Kein geplanter Angriff“.
Die Untersuchungen laufen noch, deshalb wollte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg gestern nach einer Dringlichkeitssitzung in Brüssel auch keine weiteren Details über die im polnischen Grenzort Przewodów niedergegangenen Raketenteile äußern. Wie berichtet, war am Dienstag eine „Rakete aus russischer Produktion“, so die polnischen Behörden, in ein Getreidedepot sechs Kilometer von der Grenze entfernt eingeschlagen. Zwei Menschen auf einem landwirtschaftlichen Betrieb wurden dabei getötet. Russland hatte in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine am Dienstag einen massiven Raketenangriff auf die Energieversorgung des Landes durchgeführt. Nach ukrainischer Zählung feuerten die russischen Streitkräfte mehr als 90 Raketen sowie Kampfdrohnen ab. Für etwa zehn Millionen Menschen fiel zeitweise der Strom aus.
Nach den ersten Analysen, so Stoltenberg, sei vollkommen klar, dass der Raketeneinschlag „keine gezielte Attacke Russlands“gewesen sei: „Wir haben auch keine Hinweise darauf, dass Russland eine militärische Offensive gegen die Nato plant – dennoch trägt Russland die volle Verantwortung für den Vorfall, indem es seinen illegalen Krieg gegen die Ukraine führt.“Die Raketenteile stammen vermutlich vom russischen Flugabwehrsystem S-300, das sowohl von Russland als auch von der Ukraine verwendet wird. Es wird angenommen, dass die Flugkörper im Zuge der Kampfhandlungen bzw. Abwehr außer Kontrolle gerieten und auf polnisches Gebiet abstürzten.
Die westlichen Länder reagierten demonstrativ zurückhaltend; die Verständigung darauf ergab sich nicht zuletzt deshalb sehr rasch, weil das G20-Treffen in Bali (unter anderem auch mit den EU-Spitzen Charles Michel und Ursula von der Leyen) noch im Gang ist. US-Präsident Joe Biden war einer der ersten, der dort erklärte, die Raketen wären wohl nicht gezielt aus
Russland abgefeuert worden. Aus dem Kreml selbst kam umgehend die selbe Aussage – ergänzt um Vorwürfe, der Westen würde einen „hybriden Krieg gegen Russland“führen und solche Vorfälle inszenieren. Allerdings bemühte sich auch Moskau darum, die Lage zu beruhigen und hob die zurückhaltende Reaktion des Westens hervor.
der Nato endete somit mit offensiver Deeskalation. Weder der Artikel vier (siehe unten), noch der weitaus dramatischere Artikel fünf wurde gezogen. Auch die EU-Beistandsklausel (Artikel 42.7 des EU-Vertrages) findet keine Anwendung. Polen und die baltischen Länder erhöhten allerdings ihre militärische Einsatzbereitschaft in den Grenzgebieten, Deutschland sagte Hilfe bei der Überwachung des Luftraums zu. Jens Stoltenberg musste sich auch der Frage stellen, ob die westlichen Militäreinheiten nicht eigentlich die Raketen hätten erkennen müssen. Der Generalsekretär argumentierte damit, dass
Die Sondersitzung
der Luftraum rund um die Uhr überwacht werde – „die Luftabwehr ist aktiv, wir haben AwacsFlugzeuge permanent im Einsatz und volle Abdeckung auch zu Lande und zu Wasser“– die Systeme hätten aber die Aufgabe, Attacken abzuwehren und Raketen der Luftabwehr hätten eine „völlig andere Charakteristik“. Ausweichend antwortete er auf die Frage, ob es zwischen der Nato und dem Kreml offene Kommunikationskanäle gebe.
In Przewodów arbeiteten gestern polnische und amerikanische Teams an der Spurensicherung und Datenauswertung. Die Ukraine bat um Zugang zur Einschlagstelle und forderte eine gemeinsame Untersuchung.
Artikel fünf
Das Herzstück des Nato-Gründungsvertrages besagt, dass die Bündnispartner einen bewaffneten Angriff gegen einen oder mehrere von ihnen als Angriff gegen sie alle ansehen. Sie verpflichten sich, Beistand zu leisten – mit allen erforderlichen Maßnahmen. Der Artikel wurde erst einmal nach den Terrorattacken 2001 aktiviert.