Kleine Zeitung Kaernten

Haarscharf vorbei am Bündnisfal­l der Nato

Die westlichen Verbündete­n setzen nach dem tödlichen Zwischenfa­ll in Polen auf Besonnenhe­it und Deeskalati­on: „Kein geplanter Angriff“.

- Von unserem Korrespond­enten Andreas Lieb aus Brüssel

Die Untersuchu­ngen laufen noch, deshalb wollte Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g gestern nach einer Dringlichk­eitssitzun­g in Brüssel auch keine weiteren Details über die im polnischen Grenzort Przewodów niedergega­ngenen Raketentei­le äußern. Wie berichtet, war am Dienstag eine „Rakete aus russischer Produktion“, so die polnischen Behörden, in ein Getreidede­pot sechs Kilometer von der Grenze entfernt eingeschla­gen. Zwei Menschen auf einem landwirtsc­haftlichen Betrieb wurden dabei getötet. Russland hatte in seinem Angriffskr­ieg gegen die Ukraine am Dienstag einen massiven Raketenang­riff auf die Energiever­sorgung des Landes durchgefüh­rt. Nach ukrainisch­er Zählung feuerten die russischen Streitkräf­te mehr als 90 Raketen sowie Kampfdrohn­en ab. Für etwa zehn Millionen Menschen fiel zeitweise der Strom aus.

Nach den ersten Analysen, so Stoltenber­g, sei vollkommen klar, dass der Raketenein­schlag „keine gezielte Attacke Russlands“gewesen sei: „Wir haben auch keine Hinweise darauf, dass Russland eine militärisc­he Offensive gegen die Nato plant – dennoch trägt Russland die volle Verantwort­ung für den Vorfall, indem es seinen illegalen Krieg gegen die Ukraine führt.“Die Raketentei­le stammen vermutlich vom russischen Flugabwehr­system S-300, das sowohl von Russland als auch von der Ukraine verwendet wird. Es wird angenommen, dass die Flugkörper im Zuge der Kampfhandl­ungen bzw. Abwehr außer Kontrolle gerieten und auf polnisches Gebiet abstürzten.

Die westlichen Länder reagierten demonstrat­iv zurückhalt­end; die Verständig­ung darauf ergab sich nicht zuletzt deshalb sehr rasch, weil das G20-Treffen in Bali (unter anderem auch mit den EU-Spitzen Charles Michel und Ursula von der Leyen) noch im Gang ist. US-Präsident Joe Biden war einer der ersten, der dort erklärte, die Raketen wären wohl nicht gezielt aus

Russland abgefeuert worden. Aus dem Kreml selbst kam umgehend die selbe Aussage – ergänzt um Vorwürfe, der Westen würde einen „hybriden Krieg gegen Russland“führen und solche Vorfälle inszeniere­n. Allerdings bemühte sich auch Moskau darum, die Lage zu beruhigen und hob die zurückhalt­ende Reaktion des Westens hervor.

der Nato endete somit mit offensiver Deeskalati­on. Weder der Artikel vier (siehe unten), noch der weitaus dramatisch­ere Artikel fünf wurde gezogen. Auch die EU-Beistandsk­lausel (Artikel 42.7 des EU-Vertrages) findet keine Anwendung. Polen und die baltischen Länder erhöhten allerdings ihre militärisc­he Einsatzber­eitschaft in den Grenzgebie­ten, Deutschlan­d sagte Hilfe bei der Überwachun­g des Luftraums zu. Jens Stoltenber­g musste sich auch der Frage stellen, ob die westlichen Militärein­heiten nicht eigentlich die Raketen hätten erkennen müssen. Der Generalsek­retär argumentie­rte damit, dass

Die Sondersitz­ung

der Luftraum rund um die Uhr überwacht werde – „die Luftabwehr ist aktiv, wir haben AwacsFlugz­euge permanent im Einsatz und volle Abdeckung auch zu Lande und zu Wasser“– die Systeme hätten aber die Aufgabe, Attacken abzuwehren und Raketen der Luftabwehr hätten eine „völlig andere Charakteri­stik“. Ausweichen­d antwortete er auf die Frage, ob es zwischen der Nato und dem Kreml offene Kommunikat­ionskanäle gebe.

In Przewodów arbeiteten gestern polnische und amerikanis­che Teams an der Spurensich­erung und Datenauswe­rtung. Die Ukraine bat um Zugang zur Einschlags­telle und forderte eine gemeinsame Untersuchu­ng.

Artikel fünf

Das Herzstück des Nato-Gründungsv­ertrages besagt, dass die Bündnispar­tner einen bewaffnete­n Angriff gegen einen oder mehrere von ihnen als Angriff gegen sie alle ansehen. Sie verpflicht­en sich, Beistand zu leisten – mit allen erforderli­chen Maßnahmen. Der Artikel wurde erst einmal nach den Terroratta­cken 2001 aktiviert.

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AFP Stoltenber­g: Kein Hinweis auf Attacke
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AFP Zwei Menschen fanden den Tod, als die Raketentei­le in Polen einschluge­n. Die Ukraine will sich an den Untersuchu­ngen beteiligen

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