Das 20-jährige Leiden
Brasilien wartet seit 2002 auf den WM-Titel. Zum Auftakt wartet heute (20 Uhr, ORF 1, live) Serbien.
In Brasilien steigen die Temperaturen wieder an. Nicht nur aufgrund des Fußballfiebers, das während einer Weltmeisterschaft grassiert. Allmählich kommt der Sommer auf Touren. Und somit wäre es nur passend, wenn die Seleção eine Art „Sommermärchen“wahr werden lassen würde. Deutschland hat seines 2006 verfilmt – eine Dokumentation mit Blick in die Kabine und hinter die Kulissen, was sich bei der Heim-WM damals so abgespielt hatte. In diesen Tagen strahlt Bezahlsender Sky den Vorgänger aus: „Brasilien 2002 – die wahre Geschichte“lautet der Titel und erzählt von Ronaldo, Ronaldinho, Roberto Carlos & Co. auf dem Weg zu ihrer fünften Weltmeisterschaft. Die Erwartungshaltung, die Hoffnung, der Druck, aber vor allem die Erleichterung, als der damalige Kapitän Cafu den Goldpokal stemmen durfte. Dass im Land fortan Ausnahmezustand geherrscht hatte – geschenkt.
Seitdem wurde Brasilien in eine ungewohnte Dürreperiode versetzt. Einige schmerzvolle Niederlagen inkludiert. Und der Rekordweltmeister leidet seit 20 Jahren. Nahe des Weltuntergangs befand man sich aber 2014. Ein ganzes Land wurde mit einem demütigenden 1:7 durch Deutschland ins Tal der Tränen verdammt. 2018 war für Neymar und Co. mit dem Viertelfinal-Aus gegen Belgien in Russland früh Schluss. Doch das scheint alles abgehakt, zumindest, wenn es nach dem Kapitän geht. „Wir glauben fest an uns. Alle sind hier in Topform“, führt Thiago Silva an. Brasiliens Kapitän nahm das „T-Wort“bereits bei der Pressekonferenz vor dem ersten WM-Spiel heute gegen Serbien offen in den Mund. „Der Titel ist noch weit weg, aber wir träumen jeden Tag davon.“
Vor dem ersten Gegner ist man gewarnt. Die Serben gewannen ihre Qualigruppe vor niemand Geringerem als WMMitfavorit Portugal und blieben dabei ohne Niederlage. „Sie sind ein gutes Team, insbesondere in der Offensive haben sie enorme Fähigkeiten“, sagt Trainer Tite, der aber auch um die
Stärke seiner Truppe weiß: „Wir haben junge Spieler, Spieler mittleren Alters und erfahrene Spieler – die Mischung stimmt.“Und Serbien verfügt ebenfalls über eine starke Offensive. Mit Aleksandar Mitrovic (50 Team-Treffer), Dusan Vlahovic und Luka Jovic hat man nicht weniger als 69 Nationalteamtore allein in der vordersten Reihe im Kader. Für den großen Erfolg müssen sich die Serben aber auch nach der Decke strecken. „Das Beste kommt erst. Wir sind in unseren besten Jahren“, sagt Mitrovic.
Geht es nach den Brasilianern,
wird Neymar Ähnliches zugetraut wie vor ihm Ronaldo oder etwa Romario. Der legendäre Stürmer, der die Nation 1994 zum Titel geschossen hatte, wandte sich mit einem Brief an Neymar. Dieser wurde auf „The Players’ Tribune“veröffentlicht. Romario schreibt über seine eigenen Erfahrungen, wo der Druck auf den Brasilianern enorm war. Am Ende holten sie dennoch den Titel. Genau so soll es Neymar nun auch in Katar machen. „Niemand verdient es mehr als du, diesen sechsten WM-Titel nach Hause zu bringen. Jetzt bist du dran! Ich vertraue dir. Oder besser gesagt: Brasilien vertraut dir.“Schließlich soll ein Sommermärchen geschrieben werden. Das Timing würde stimmen.