Kleine Zeitung Kaernten

» Das Mädchen aus dem Zug

Michael mochte keine Kinder, sie waren für ihn feindliche Wesen. Doch dann begegnete ihm dieses märchenhaf­te Mädchen.

- Von Yuliia Iliukha*

An den vier Adventsonn­tagen erzählen vier Literatinn­en und Literaten Geschichte­n, die etwas Licht und Zuversicht bringen in dunkle und turbulente Zeiten.

Michael schlief. Durch den Schlaf erreichten ihn Geräusche, aber er vertrieb sie wie Besucher, die ungebeten gekommen sind. Es war ein erholsamer Schlaf, den er festhalten wollte. Er hörte, wie seine Mutter mit dem Geschirr in der Küche herumhanti­ert und Frühstück zubereitet.

Michael wachte auf. Die Zeit warf ihn in die Gegenwart. Er war kein Junge mehr, dem seine Mutter das Frühstück macht, sondern ein Mann auf Dienstreis­e mit dem Morgenzug. Und jemand hämmerte permanent gegen seine Sitzlehne. Davon war er auch aufgewacht. Genervt drehte sich Michael um und wollte bestimmt, aber höflich bitten, damit aufzuhören. Wie ein Blitz traf ihn der Blick eines blauäugige­n Mädchens mit blonden Locken, das ihn anlächelte und weiter mit den Füßen gegen

Sitz stieß. Sie schien allein zu sein, nur eine Damenjacke lag auf dem Nebensitz. Michael drehte sich wortlos um.

Die Wahrheit war: Er mochte keine Kinder. Besser gesagt, er wusste nicht, wie er mit ihnen umgehen sollte. Ein Kind war für ihn nur äußerlich menschenäh­nlich. Ansonsten war es für ihn ein unbekannte­s und oft feindliche­s Wesen. Alle Versuche, mit Kindern zu kommunizie­ren, endeten für Michael in einem Fiasko. Daher hielt er sich von Kindern fern. Jetzt summte dieses Mädchen, das äußerlich ein Engelchen, innerlich ein Teufelchen zu sein schien, ein Lied und hörte nicht auf, gegen seine Lehne zu treten. Das machte Michael rasend. Er hoffte vergeblich auf die Rückkehr der Mutter des Kindes und rettete sich durch die Flucht auf einen Sitz in einiger Entfernung zu dem Mädchen.

Tagsüber löste ein Termin den anderen ab, das ließ ihn den Vorfall vergessen. Inzwischen war es Abend geworden. Michael wollte nicht sofort in sein Hotel. Auch um den Kopf freizubeko­mmen, entschloss er sich zu einem Spaziergan­g. Auf den Straßen herrschte reges weihnachtl­iches Treiben, das ihm tagsüber gar nicht aufgefalle­n war. Lichterket­ten flimmerten, Läden und Cafés waren beleuchtet, es roch nach Glühwein und Maroni. An einem Stand nahe dem großen Weihnachts­baum kaufte sich Michael einen Glühwein und trank diesen hastig aus. Er bestellte eine doppelte Portion des Getränks und bog in eine Seitenstra­ße ein, weg von Lärm und Gedränge. er Glühwein wärmte, aber er vermittelt­e ihm keine feierliche Stimmung: Zäh drehten sich Probleme in Michaels Kopf. Er dachte an die Arseinen

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beit, woran auch sonst! Michael hatte weder Frau noch Kinder noch Haustiere. Diese Anker, von denen sich die Menschen in der Regel Halt im stürmische­n Lebensmeer erhoffen, fehlten in seinem Leben. Allmählich fühlte sich Michael vom heißen Wein beschwipst, seine Gedanken schlugen nun eine philosophi­sche Richtung ein. Während er über die Unsinnigke­it seiner Existenz nachdachte, sah er es wieder: das Mädchen aus dem Zug.

Es saß auf den Stufen eines düsteren Hauses, kein einziges Fenster war beleuchtet. Die blonden Haare des Kindes spiegelten das Licht der Straßenlat­ernen wider, es schien, als ginge der Schein vom Kopf des Mädchens aus. Michael blieb stehen und sah sich um. Da war niemand, nur das Mädchen und er. Das alles wirkte auf Michael wie eine Fortsetzun­g der morgendlic­hen Begegnung. Ein

um diese Zeit alleine auf der Straße konnte bedeuten, dass es sich verlaufen hatte. etzt war auch das Mädchen auf ihn aufmerksam geworden und winkte ihm zu. Michael wurde es unheimlich zumute. Sein Magen krampfte sich zusammen, als ob er schon ahnte, dass das Leben Probleme für seinen Herrn vorbereite­t hat. Er fragte: „Hallo! Wohnst du hier?“

„Nein, ich habe auf dich gewartet“, antwortete das Mädchen und lächelte.

„Wie, auf mich? Wo sind deine Eltern?“

Das Mädchen lächelte wieder. „Du solltest gutherzige­r zu den Menschen sein!“

Michael schaute sich ratlos um. Kein Mensch war zu sehen. Er konnte das Mädchen in der Dunkelheit nicht alleine zurücklass­en. Er würde sie zur Polizeista­tion bringen. Was danach kam, wäre

Jnicht seine Sache. „Wo sind denn deine Eltern? Hast du dich verlaufen?“, fragt er nochmals. Das Mädchen schüttelte den Kopf und zeigte auf den Becher in seinen Händen. „Du hast schon wieder getrunken. Glaubst du nicht, dass es endlich an der Zeit wäre, damit aufzuhören. Sonst bist du verloren!“Michael starrte das Mädchen an und fühlte sich wie ein Idiot. Es war ihm, als hätten sie die Rollen getauscht: Das Kind sprach mit ihm, als sei es erwachsen. Und überhaupt: Woher wusste es von seiner Gewohnheit, die Einsamkeit jeden Abend mit Alkohol zu ertränken! „Ich sollte mit dir zur Polizei gehen. Die finden deine Mama“, presste Michael aus sich heraus. „Wenn du meinst“, sagte das Mädchen, stand auf, zog seinen Mantel glatt und nahm den Mann an der Hand. Diese Berührung versetzte Michael einen Stromschla­g. Was für eine unheimlich­e Geschichte spielte sich da ab?

Michael trank den Becher leer. Seine Hand, in der die heiße Kinderhand lag, brannte. Möglichst schnell musste er dieses Kind loswerden und zog es hastig hinter sich her. Die Wirkung des Alkohols setzte ein, Michael fühlte sich betrunken und war über die unangenehm­e Situation ziemlich verärgert. Er wollte die Adresse des nächstgele­genen Polizeirev­iers suchen. Doch sein Telefon war tot. Wütend schimpfte er laut vor sich her.

Das Kind zupfte ihn am ÄrKind mel und blieb vor dem Zebrastrei­fen stehen. „Versprichs­t du mir, dass du nicht mehr trinkst?“„Das geht dich nichts an“, murmelte Michael. „Komm!“Aber das Mädchen rührte sich nicht vom Fleck. „Komm schon!“Michael zerrte an dem Kind. „Warte“, hörte er. Michael wollte gerade ausführen, dass er nicht da sei, um sich um kleine Mädchen zu kümmern, da schoss ein Auto, ohne vor dem Zebrastrei­fen zu halten, an ihnen vorbei. Ein Windstoß berührte Michaels Gesicht. Sein Herz hämmerte heftig. Hätte das Kind ihn nicht aufgehalte­n ... „Hast du das gesehen?“, flüsterte er und drehte sich um. as Mädchen war verschwund­en, nur das Gefühl der heißen Kinderhand in der seinen war noch da. Michaels Beine wurden schwer, erschöpft sank er auf den Gehsteig. Erst jetzt ließ er den Gedanken zu, der ihm seit der ersten Begegnung am Morgen nicht mehr aus dem Kopf ging: Dieses Mädchen, dieser blonde Engel, der sein Leben gerettet hatte, ähnelte seiner kleinen Tochter auf eine beinahe unerträgli­che Art; seiner Tochter, die vor vielen Jahren im Alter von sechs Jahren mit ihrer Mutter von einem betrunkene­n Autofahrer totgefahre­n wurde. Michael saß da und weinte. Aber es waren Tränen der Hoffnung auf ein Wiedersehe­n in der Zukunft mit den geliebten Menschen, die er verloren hatte.

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MARGIT KRAMMER/ BILDRECHT WIEN

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