Ein Loblied auf die Naivität!
Bescheid zu wissen und sich nichts vormachen lassen, das scheint heute besonders erstrebenswert. Aber die Welt bewegen oft Menschen, die sich arglos auf eine Unternehmung einlassen.
Heute möchte ich ein Loblied singen auf eine Eigenschaft, die in den vergangenen Jahren stark aus der Mode geraten ist: auf die Naivität. Diese Eigenschaft lässt sich kaum jemand gerne nachsagen, denn wer gilt schon gerne als leichtgläubig, realitätsfremd oder gar töricht? Wer möchte das sein in einer Welt, gebeutelt von Pandemie, Ukraine-Krieg und Fake News, in der es zunehmend darum geht, schnell eine unerschütterliche Meinung zu haben, stets Bescheid zu wissen und sich von niemandem etwas vormachen zu lassen?
Vermutlich sehne ich mich genau deshalb nach Naivität. Immanuel Kant beschrieb sie als „der Ausbruch der der Menschheit ursprünglich natürlichen Aufrichtigkeit wider die zur anderen Natur gewordene Verstellungskunst“. Friedrich Schiller unterschied zwischen zwei Formen: Kindische Naivität zeuge von Unwissen und Unvermögen, kindliche hingegen von einem „Herz voll Unschuld und Wahrheit“, so der Dichter.
Von Unschuld und Wahrheit zu sprechen ist in den vergangenen 200 Jahren ebenfalls aus der Mode geraten, deshalb definiere ich wünschenswerte Naivität im 2022 für mich so: als bewusste Entscheidung gegen eine vermeintliche Abgeklärtheit, die alle Ideale über Bord geworfen hat. Als bewusste Entscheidung dafür, an eine grundsätzliche Kooperations- und Lernfähigkeit des Menschen zu glauben.
Chelsea Manning, die vermutlich bekannteste Whistleblowerin der Welt, sagt jetzt in einem Interview mit der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“über sich: „Ich war naiv, sehr naiv.“Damals, 2010, arbeitete sie als IT-Spezialistin für das US-Militär im Irak. Während ihrer Arbeit stieß sie auf geheime Berichte über Kriegsverbrechen der Streitkräfte. Sie entschied, die Dokumente an die Online-Plattform Wikileaks weiterzugeben, die diese veröffentlichte. in Gericht verurteilte Manning unter anderem wegen Spionage zu 35 Jahren Gefängnis, doch 2017 begnadigte der damalige US-Präsident Barack Obama sie. Ohne sie wären die massiven Menschenrechtsverletzungen der Amerikaner im Irak und in Afghanistan vielleicht nie an die
EÖffentlichkeit gelangt. Sie sei naiv gewesen, sagt Chelsea Manning, weil sie daran geglaubt hatte, dass sie – wenn sie schon ein Land besetzten – den Auftrag dort so gut wie möglich erledigen sollten.
Sollten wir das nicht alle glauben? Und gilt heute schon als naiv, wer auf die Einhaltung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts pocht? Der Vorwurf, „naiv“zu sein, der gerne Hand in Hand geht mit dem Vorwurf, „Gutmensch“zu sein, diffamiert jedes moralische Argument. Wer anderen den Vorwurf macht, kann sich leicht zurücklehnen und in der Haltung verharren, die Welt sei schlecht und jedes Bemühen um bessere Lebensbedingungen für alle vergebens. helsea Manning hat mit ihrer Naivität einen riesigen Stein ins Rollen gebracht. Sie habe das unterschätzt, sagt sie rückblickend, und sie hat einen sehr hohen Preis dafür bezahlt: Isolationshaft in Kuwait, lange Jahre im Gefängnis, Beugehaft nach ihrer Freilassung 2017, aus der sie 2020 erst nach einem Suizidversuch entlassen wurde. Aber die Welt weiß dank ihr, dass die Truppen eines Landes im 21. Jahrhundert nicht mehr in ein anderes Land einmarschieren und dort Menschenrechte mit Füßen treten können. Das ist immerhin etwas, und daran halte ich mich naiverweise fest.
Chelsea Manning, die Whistleblowerin, hat mit ihrer Naivität einen riesigen Stein ins Rollen gebracht.
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