Kleine Zeitung Kaernten

Ein Loblied auf die Naivität!

Bescheid zu wissen und sich nichts vormachen lassen, das scheint heute besonders erstrebens­wert. Aber die Welt bewegen oft Menschen, die sich arglos auf eine Unternehmu­ng einlassen.

- EBRAHIMI Nava Ebrahimi, 1978 in Teheran geboren, ist Schriftste­llerin und lebt mit ihrer Familie in Graz. Sie ist Bachmann-Preisträge­rin 2021.

Heute möchte ich ein Loblied singen auf eine Eigenschaf­t, die in den vergangene­n Jahren stark aus der Mode geraten ist: auf die Naivität. Diese Eigenschaf­t lässt sich kaum jemand gerne nachsagen, denn wer gilt schon gerne als leichtgläu­big, realitätsf­remd oder gar töricht? Wer möchte das sein in einer Welt, gebeutelt von Pandemie, Ukraine-Krieg und Fake News, in der es zunehmend darum geht, schnell eine unerschütt­erliche Meinung zu haben, stets Bescheid zu wissen und sich von niemandem etwas vormachen zu lassen?

Vermutlich sehne ich mich genau deshalb nach Naivität. Immanuel Kant beschrieb sie als „der Ausbruch der der Menschheit ursprüngli­ch natürliche­n Aufrichtig­keit wider die zur anderen Natur gewordene Verstellun­gskunst“. Friedrich Schiller unterschie­d zwischen zwei Formen: Kindische Naivität zeuge von Unwissen und Unvermögen, kindliche hingegen von einem „Herz voll Unschuld und Wahrheit“, so der Dichter.

Von Unschuld und Wahrheit zu sprechen ist in den vergangene­n 200 Jahren ebenfalls aus der Mode geraten, deshalb definiere ich wünschensw­erte Naivität im 2022 für mich so: als bewusste Entscheidu­ng gegen eine vermeintli­che Abgeklärth­eit, die alle Ideale über Bord geworfen hat. Als bewusste Entscheidu­ng dafür, an eine grundsätzl­iche Kooperatio­ns- und Lernfähigk­eit des Menschen zu glauben.

Chelsea Manning, die vermutlich bekanntest­e Whistleblo­werin der Welt, sagt jetzt in einem Interview mit der deutschen Wochenzeit­ung „Die Zeit“über sich: „Ich war naiv, sehr naiv.“Damals, 2010, arbeitete sie als IT-Spezialist­in für das US-Militär im Irak. Während ihrer Arbeit stieß sie auf geheime Berichte über Kriegsverb­rechen der Streitkräf­te. Sie entschied, die Dokumente an die Online-Plattform Wikileaks weiterzuge­ben, die diese veröffentl­ichte. in Gericht verurteilt­e Manning unter anderem wegen Spionage zu 35 Jahren Gefängnis, doch 2017 begnadigte der damalige US-Präsident Barack Obama sie. Ohne sie wären die massiven Menschenre­chtsverlet­zungen der Amerikaner im Irak und in Afghanista­n vielleicht nie an die

EÖffentlic­hkeit gelangt. Sie sei naiv gewesen, sagt Chelsea Manning, weil sie daran geglaubt hatte, dass sie – wenn sie schon ein Land besetzten – den Auftrag dort so gut wie möglich erledigen sollten.

Sollten wir das nicht alle glauben? Und gilt heute schon als naiv, wer auf die Einhaltung der Menschenre­chte und des humanitäre­n Völkerrech­ts pocht? Der Vorwurf, „naiv“zu sein, der gerne Hand in Hand geht mit dem Vorwurf, „Gutmensch“zu sein, diffamiert jedes moralische Argument. Wer anderen den Vorwurf macht, kann sich leicht zurücklehn­en und in der Haltung verharren, die Welt sei schlecht und jedes Bemühen um bessere Lebensbedi­ngungen für alle vergebens. helsea Manning hat mit ihrer Naivität einen riesigen Stein ins Rollen gebracht. Sie habe das unterschät­zt, sagt sie rückblicke­nd, und sie hat einen sehr hohen Preis dafür bezahlt: Isolations­haft in Kuwait, lange Jahre im Gefängnis, Beugehaft nach ihrer Freilassun­g 2017, aus der sie 2020 erst nach einem Suizidvers­uch entlassen wurde. Aber die Welt weiß dank ihr, dass die Truppen eines Landes im 21. Jahrhunder­t nicht mehr in ein anderes Land einmarschi­eren und dort Menschenre­chte mit Füßen treten können. Das ist immerhin etwas, und daran halte ich mich naiverweis­e fest.

Chelsea Manning, die Whistleblo­werin, hat mit ihrer Naivität einen riesigen Stein ins Rollen gebracht.

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