„Das sind Luxusprobleme“
INTERVIEW. Der Schriftsteller Martin Mosebach hält den neuen Moralismus für substanzlos und warnt vor einer Verleugnung der christlichen Wurzeln Europas. Ein Bruch mit der Tradition würde uns zu Untertanen des Augenblicks machen.
Schriftsteller scheuen Zuschreibungen wie der Teufel das Weihwasser. Sie sagen von sich selber, Sie seien ein Reaktionär. Woher diese Offenheit? MARTIN MOSEBACH: Oft wurde mir auf den Kopf zugesagt, ich sei konservativ. Das war mir zu wenig. Es war mir nicht provozierend, nicht gut gelaunt genug. Es erschien mir so defensiv. Das ist nicht mein Lebensgefühl.
Sie wollen die Welt also gut gelaunt von rechts retten?
Ich will sie gar nicht retten. Die marxistische Definition des Reaktionärs behauptet ja, er wolle das Rad der Geschichte zurückdrehen. Ich dagegen benutze den Begriff wie der Philosoph Nicolás Gómez Dávila, der weit entfernt davon war, zu glauben, man könne diesem Rad in die Speichen greifen. Der Reaktionär in seinem Sinne hat nichts mit einem politischen Programm zu tun. Es geht ihm um eine Haltung.
Und wie äußert sich diese?
Etwa in der Ablehnung jeder Vorstellung von Fortschritt oder in der Weigerung, eine Autonomie des Menschen anzuerkennen.
Was daran ist so grässlich?
Die Leugnung des Evidenten. Der Mensch ist von vielem abhängig: von der Weltregion, aus der er stammt, vom Stern, unter dem er geboren
wurde, von seinen Eltern, von seinem Geschlecht. Und meiner Überzeugung nach ist auch das moralische Gesetz etwas ihm Vorgegebenes.
Vorgegeben von wem?
Die katholische Kirche, der ich angehöre, betrachtet das moralische Gesetz als göttliche Offenbarung. Nicht die einzige ihrer Art im Übrigen: Der Philosoph Johann Georg Hamann hat auch die Sprachen als Offenbarung bezeichnet. Sie sind ein Geschenk an die Menschen, um denken zu können.
Was macht Sie gegenüber dem Fortschritt misstrauisch?
Die Vorstellung, dass der Mensch ein anderer geworden sein könnte, als Adam es war, widerspricht dem, wie ich es bei Betrachtung der frühesten Menschheitszeignisse wahrnehme.
Aber verändern wir alle uns nicht beständig?
Wir wandeln uns, aber nicht im Sinn einer geraden Entwicklung auf ein zu errei
chendes Ziel. Die Entwicklung ist bei jedem anders, und sie muss keine Entwicklung zum Besseren sein.
Stresst Sie diese Vorstellung?
Ich glaube einfach nicht daran. Unser Ziel ist der Tod. Auf den Tod steuern wir mit jedem Atemzug zu. Aber wie weit wir dabei besser und weiser werden mögen, ist eine Frage des Einzelfalls.
An Ihnen scheiden sich die Geister. Für die einen sind Sie ein Bewahrer der Form, für die anderen ein Gotteskrieger im Tweed. Wie gehen Sie damit um?
Es gibt in manchen Äußerungen über mich eine gewisse Aggression, die ad personam geht. Das ist in der literarischen Diskussion eigentlich nicht üblich. Aber ich scheine dazu zu verleiten.
Warum ist das so?
Wenn ich anfangen würde, mich damit zu beschäftigen, käme ich nicht zu dem, was mich wirklich bewegt. Man soll sich ohnehin nicht so sehr mit sich selber beschäftigen. Die Frage, wie wirke ich auf andere, kann einen verrückt machen.
Aber Sie scheinen den Widerspruch auch zu genießen.
Ich habe nichts dagegen, dass mir widersprochen wird. Ich widerspreche ja auch.
Sie haben nie ein Hehl aus Ihrer Abneigung gegen die Achtundsechziger gemacht. Was mögen Sie an denen nicht?
Heute ist das eine lange vergangene Welt. Heute sind das Opas. Aber als ich jung war, haben sie mich abgestoßen. Ihre Sorgen und Hoffnungen waren nicht die meinen. Ich stellte mir vor, dass es keinen Platz für mich gäbe, wenn diese Milieus eines Tages siegen sollten.
Es war der Aufstand gegen alles, was ich als reich, schön und beglückend wahrnahm. Damit meine ich nicht die bestehende Ordnung. Die war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr imposant. Das war diese graue Bundesrepublik, mit der ich mich nicht identifizieren konnte. Sehr wohl aber mit allem, was an kultureller Tradition noch zu ahnen und zu greifen war.
Gesellschaftspolitisch haben die Achtundsechziger gesiegt. Und es gibt für Sie noch immer einen Platz. Überrascht?
Sie haben gewonnen, aber es stellte sich heraus, dass meine Besorgnisse, was mein eigenes Leben anging, unbegründet waren. Es war mir möglich, mein Leben nach meinen Vorstellungen ohne Abstriche zu leben. Ich konnte veröffentlichen und wurde vom ersten Roman an gefördert.
Wäre das im jetzigen, polarisierten Klima noch möglich?
Es gibt heute eine strenge Moralpolizei, die Verstöße ahndet. Das kann vor allem im universitären Milieu sehr schmerzhaft und bedrohlich sein. Für den freien Autor weniger, weil das Publikum doch nicht so homogen ist, wie sich die moralischen Sittenwächter das wünschen. Die Leute lassen sich zwar einschüchtern, aber sie suchen sich schon selber aus, was sie lesen wollen.
Wohin steuern wir?
Das kann ich nicht sagen. Ich sehe aber in dieser aufgeheizten Stimmung sehr wenig geistige Substanz. Es geht immer gegen das Patriarchat,
gegen die überlieferte Moral der Kirche, gegen den Gedanken einer europäischen Zivilisation, die sich über die Welt spannt. Und es geht um die eigenen Verletzlichkeiten. Aber das sind Luxusprobleme, die bei den sich abzeichnenden ernsten Prüfungen, die ich uns nicht wünsche, bei Krieg, Armut und Kälte, schnell weggewischt würden.
Ist das Schreiben für Sie ein Akt des Widerstandes?
In keiner Weise. Ich möchte meine Person und meine Wünsche so weit wie möglich aus meinen Geschichten heraushalten. Und ich habe sogar die Sorge, dass jede Art von Veränderung, auch Veränderung der schlechten Zustände, zu noch viel schlimmeren Zuständen führen könnte. Manchmal ist die natürlich völlig unmögliche Idee einer vollständigen Stagnation für mich geradezu eine Glücksvorstellung.
Ihre Romane haben in der Tat nichts Missionarisches. Dabei sind Sie bekennender Katholik. Wie kommt das?
Ich finde, das Romanschreiben leidet darunter, wenn es zur engagierten Kunst wird. Der Roman soll den Lebensstoff unkommentiert darstellen, soweit das überhaupt möglich ist.
Beim G7-Treffen unlängst in Münster hat das deutsche Auswärtige Amt das Kruzifix aus dem historischen Ratssaal entfernen lassen, um niemandes
Gefühle zu beleidigen. Was sagt der Katholik Mosebach dazu?
Ich sehe das als bedauernswerten Aufstand gegen die Geschichte, als politisch maßlosen Anspruch, nur die Augenblickssituation gelten lassen zu wollen und alles auszuradieren, was aktuell nicht mehrheitsfähig ist.
Woher rührt das Bestreben?
Alles, was einem gegenwärtigen politischen Machtwillen Widerstand leistet, wird als Provokation empfunden. Infolgedessen muss man es austilgen. In den zwei Jahrhunderten nach der Französischen Revolution hat es mehrfach solche Wellen von Kulturvernichtung gegeben. Anders glaubte man nicht zu dem neuen Menschen zu gelangen. Ich muss immer an die Parolen der chinesischen Roten Garden denken: Das alte Denken, die alten Sitten, die alten Gebräuche, die alte Religion – das sind die vier Übel, die ausgejätet, den Menschen aus den Köpfen gerissen werden müssen, damit sie ganz und gar zu Untertanen des Augenblicks werden. Noch umgibt uns aber die alte Welt mit ihren vielen Hinterlassenschaften und ihrem Denken. Noch bilden ihre Kunstwerke den Maßstab und beweisen uns, dass man sich die Welt auch ganz anders vorstellen kann. Das alles zum Verschwinden zu bringen, würde zu Verkümmerung und Verarmung führen. Es würde uns zu Gefangenen im Gefängnis der Gegenwart machen.