Hände aufs Herz
ADVENT IST DIE ANKUNFT. Bettina Meister war mit Nino hochschwanger, als sie mitten in einem Schulhof leblos zusammenbrach. Das beherzte Eingreifen von Rebecca Hartinger und vielen Weiteren hat an diesem Tag zwei Leben gerettet. Im Kleinen zeigt die Welt d
Auf die Welt kommen. Sagt man so schnell. Wunder – auch so ein Wort. Manchmal jedoch gleicht die Ankunft im Leben wirklich einem Wunder. Weil ihr ein Hürdenlauf vorausgeht. Nicht immer geht das gut aus. Und wenn doch, haben mitunter helfende Hände selbige im Spiel. So wie bei Nino.
Unbeeindruckt vom Stimmenkanon um ihn herum schläft der wenige Tage alte Säugling in den Armen seiner Mutter Bettina Meister. Draußen vor dem Neubau bekunden acht in den November-Rasen gesteckte Störche aus Holz Ninos Ankunft. Jetzt ist es das knapp vier Kilo leichte Kind, das die Herzen höherschlagen lässt. Dabei hatte wohl sein eigenes, und seiner Mutter, schon aufgehört zu schlagen. Am 12. September.
Nur manchmal, da streckt Nino ruckartig seine winzigen Arme und Beine von sich. „Ich frage mich dann, ob er sich an die DefibrillatorSchocks erinnert“, grübelt Ninos Mutter Bettina. Ihr Gesichtsausdruck erzählt zugleich von Glück und Ungewissheit. Vom 12. September selbst kann die 34-Jährige nichts erzählen. Ihr fehlt jegliche Erinnerung daran.
Der 12. September. Dass sich die Wege von Bettina, zu diesem Zeitpunkt in der 28. Woche schwanger, und Rebecca Hartinger am ersten Tag nach den Ferien vor der Schule Kirchberg an der Raab kreuzen, ist zwei Dingen geschuldet: Zufall und einer Verwechslung. Dass dies zwei Leben rettet, wissen allesamt in der Früh noch nicht, als sich die hochschwangere Frau mit ihrer Tochter Fabienne (10) „vor der falschen Klasse anstellt“. Fabienne hat ihren ersten Tag in der Klasse B. Doch die beiden stehen dort, wo der Lehrer am Schulhof das Schild „C“hochhält.
Dort steht auch Rebecca Hartinger. In der Früh ließen sie und ihr Mann die beiden Kinder entscheiden, wer wen in die Schule bringt. Tobias (6) entscheidet sich für Papa, Sarah (10) für Mama. „Ich wollte gleich wieder fahren, aber Sarah bat mich, zu warten, bis sie in der Klasse ist“, erzählt die OP-Assistentin.
Was danach passiert, als aus dem vor Aufregung und Vorfreude elektrisierten Eltern-Kinder-Gewurle plötzlich das Wort „Hilfe“dringt, beschreibt Ersthelferin Rebecca Hartinger als „die längsten Minuten meines Lebens“. Unmittelbar in ihrer Nähe ist zuvor Bettina Meister zusammengebrochen. „Ich habe meine Tasche fallen lassen und bin zu ihr gerannt.“Erst, als sie der vor ihr liegenden Frau die Jacke auszieht, sieht sie die Wölbung am Bauch. „In dem Moment dachte ich: Da liegen jetzt zwei Leben vor mir. Und, dass die Geburt gleich losgeht.“
Während Bettina Meister anfangs noch kurz ansprechjenes bar ist, verschlechtert sich ihr Zustand schnell. Sie wird bewusstlos. „Notarzt! Sofort!“, hört die Ersthelferin ihren eigenen Schrei heute noch nachhallen.
Umgehend bemüht sich das Lehrpersonal, Kinder und Eltern rasch ins Innere der Schule zu bringen. „Dann waren fast alle weg“, erinnert sich die Helferin, „nur ein Mädchen blieb stehen.“Es ist Fabienne, die Tochter, die um ihre Mama weint.
Zwei Monate später strahlt die Zehnjährige mit dem Weihnachtspulli, als sie daheim neben Ninos Wiege wacht und ihm leise zuflüstert: „Jetzt bist du endlich da, kleiner Zwerg. Du darfst ruhig weinen, damit ich dich rausheben kann.“Seit sie sich erinnern kann, wünscht sie sich ein Geschwisterchen, verrät Fabienne. Mit Puppen hat sie das Wechseln von Windeln und Stramplern geübt. Für sie zählt das Jetzt. Das ist spannend genug.
Dass es ein gemeinsames Jetzt gibt, liegt daran, dass am 12. September alle Glieder der
Rettungskette perfekt ineinandergreifen. Beginnend bei Rebecca Hartinger, die Fabiennes und Ninos Mama in stabile Seitenlage bringt, überlebensnotwendige Handgriffe setzt und auf die Frau vor ihr einredet: „Du musst stark sein! Du musst Luft holen, für dich und dein Baby!“
Sanitäter Markus Egger, am ersten Schultag ebenfalls zufällig in der Nähe, greift ebenso ein wie eine Frau, die Bettina Meisters Bauch hält, um dem Ungeborenen Wärme zu geben. „Obwohl die Rettung schnell da war, haben wir dann aber keine Lebenszeichen mehr gespürt“, schildert Hartinger.
Herzstillstand. Die Rettungssanitäter und der aus Feldbach herbeigeeilte Notarzt Wieland Schmidt übernehmen die Herzmassage, sie intubieren, sie setzen mehrmals den Defibrillator ein. Der Rettungshubschrauber landet. Mit an Bord: Notarzt Friedrich Kaltenböck, dem es mit den anderen gemeinsam gelingt, die 34-Jährige nach einer Ewigkeiten gleichenden
Dreiviertelstunde zu stabilieren. Und mit ihr auch Nino.
„Wir wussten damals aber nicht, wie es dem Baby geht. Wie lange das Gehirn von Mutter und Kind ohne Sauerstoff war. Die große Frage war: Wohin fliegen wir?“, erzählt Kaltenböck. Er entscheidet sich für die erste Chirurgie am LKH-Uniklinikum Graz. Im Schockraum trommelt „Trauma-Leaderin“Barbara Hallmann in Minutenschnelle Intensivmediziner und Spezialistinnen für Geburtshilfe und Neonatologie zusammen. Ein OP-Saal für einen Akut-Kaiserschnitt steht bereit. „Wir mussten vom Schlimmsten ausgehen.“
Doch die fatalste Frage des Lebens, die nach dem Entweder-oder, muss nicht gestellt werden. „Weil alle von Beginn an perfekt reagiert haben“, wie die Ärzte betonen. Auch Kaltenböck sagt, dass er sich in 31 Jahren als Flugretter an keinen Fall erinnern kann, „wo so eine Situation so gut ausgegangen ist“. Als Ursache wird eine „Elektrolytentgleisung“vermutet, die Herzflimmern ausgelöst hat.
Doch davon ahnt Ersthelferin Hartinger noch nichts, als sie im Schulhof nach dem Verstummen der Hubschrauber-Rotoren mit dem Handy der Patientin die Nummer hinter dem Wort „Schatzi“wählt. Es ist Bettina Meisters Partner Andreas, der beruflich auf dem Weg nach Wien ist. „Bis ich dann in Graz war, das waren die schlimmsten Stunden meines Lebens“, erzählt er heute, wo er mit Nino im Arm gerade die schönsten Stunden erleben darf. Das Buch „Hilfe, ich werde Papa“, das neben dem Fernseher steht – es sieht unbenutzt aus.
In den Tagen nach dem 12. September weicht er seiner Partnerin auf der Intensivstation nicht von der Seite. Am zweiten Tag erwacht sie aus dem künstlichen Tiefschlaf, hat nur zwei Fragen, während sie auf ihren Bauch greift: „Ist er noch da?“Und: „Wo ist meine Tochter?“
Seit dieser Zeit begleiten sie Eva Christine Weiss und Teresa Albori von der Geburtshilfe-Station. Sie müssen sich in der ersten Woche täglich neu
bei Bettina Meister vorstellen. Doch ab der zweiten Woche geht es bergauf. Erinnerungen kehren wieder.
Abgesehen von einem zweiten Hubschrauberflug am 6. Oktober (nachdem Bettina Meisters Puls hochgeschnellt ist), verlaufen die Wochen bis zum geplanten Kaiserschnitt am 18. November frei von Problemen.
„Wir waren uns nur nicht sicher, wie es dem Butzi nach der Geburt geht“, räumt Eva Christine Weiss ein. Ninos Antwort: bestens. Und während man selbst auf den Spitalsgängen, wo der medizinische Alltag bisweilen einen Schutzmantel über Emotionen stülpt, das Wort „Wunder“hört, hat Bettina Meister zu Weihnachten nur einen Wunsch: „Einfach leben.“