AL ER IE Der Mensch in Nöten „
Viele Menschen geraten in Not – aus den unterschiedlichsten Gründen. Nicht alle davon muss man unbedingt verstehen.
V Düber die Welt im Großen und Kleinen ass der Mensch in allen Zeiten und mehr noch in diesen leicht in Not geraten kann, in eine innere und eine äußere, von der Welt bedrängt, verunsichert und bedroht, versteht sich – auch wenn die Not selbst oft eine unverstandene bleibt.
Kürzlich las ich von einem Mann in Deutschland, der in höchster Verzweiflung die Polizei holte, weil seine Frau nicht aufhörte, auf ihn einzureden, wie der augenscheinlich Verängstigte, der sich im dunklen Garten versteckte, zu Protokoll gab. Er war in seinen eigenen vier Wänden, mitten in der Nacht in Not geraten, in eine Situation der Ausweglosigkeit, wurde verfolgt von einem Redeschwall, einem Übermaß an Wörtern, und wollte nichts als schlafen. Was die Frau im Rausch zu sagen hatte, ist nicht überliefert, bloß, dass es zu viel war, und dass es kein Ende nahm, auch nicht, als die Behörden eintrafen.
Man kommt nicht umhin, sich verschiedene Szenarien vorzustellen, fragt sich, ob es eine Logorrhö der Liebe oder der Wut war, der Zärtlichkeit oder der Vorwürfe, oder ob die Betrunkene im letzten Glas eine Weltformel gefunden hatte, deren Zusammenhänge sie einem anderen entgegenschreien musste, um sie nicht zu vergessen und das Glück der Erkenntnis
ohne Aufschub zu teilen. Die zur Hilfe gerufenen Beamten lösten das Unglück, indem sie Sender und Empfänger in den entlegensten Zimmern des Hauses unterbrachten, die größtmögliche Distanz und einen gesunden Schlaf verfügten, und ihm selbst doch nicht entkamen, denn kaum verließen sie das verstummte Paar, erreichte sie ein Notruf der Dame, für den sie ihre Rede am Telefonhörer dort wieder aufnahm, wo sie unterbrochen worden war. ie Erleichterung des Mannes, dass die Ansprache nicht ihm galt, ließ ihn noch im Schlummer lächeln, und gewiss dachte er im stillen Dunklen nicht an meinen Lieblingssatz, den einmal der Nobelpreisträger Imre Kertész geschrieben hatte:
„Jedes Leben richtet sich an jemanden, und insofern – und nur insofern – ist es
Dein sinnvolles Leben, wenn auch den Sinn des Lebens selbst völlige Finsternis umgibt.“
Zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort in Deutschland wiederum, erfuhr ich aus der Zeitung, litt ein Jugendlicher auf einer Fahrt über die Autobahn so sehr unter der Beschallung mit der Schlagermusik seines Vaters, dass er „Hilfe!“auf ein Blatt Papier schrieb und an die Seitenscheibe hielt. Es dauerte nicht lang, bis ein aufgestörter Fahrer die Polizei informierte und diese die durch die Einsamkeit des Asphalts schießende Musikkapsel in Erwartung einer Entführung, einer Gewalttat, einer Katastrophe anhielt. b Marianne Rosenberg „Liebe kann so weh tun“gesungen hatte oder Helene Fischer atemlos gewesen war in dem Wagen, der dem jungen Mann wie ein umgekehrter faradayscher Käfig vorgekommen sein muss, bleibt erneut der Fantasie des Lesers überlassen. Den Polizeibericht zu jenem Vorfall aber stelle ich mir jedenfalls als großes Gedicht von großer Not vor, unverständlich, aber schön.
Ich las von einem Mann, der die Polizei verständigte, weil seine Frau nicht aufhörte, auf ihn einzureden.
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