Wie viel Religion steckt im Fußball?
Die Weltmeisterschaft in Katar wirft viele Fragen auf, auch jene nach den Parallelen zu den tradierten Glaubenslehren.
Es entbehrt nicht einer schicksalhaften Zufälligkeit, dass das Finalspiel der Fußballweltmeisterschaft in Katar an einem Sonntag stattfindet, der in der evangelischen Kirche in Österreich, Deutschland und der Schweiz als Totensonntag – als Gedenktag für die Verstorbenen – gilt. Das kann man angesichts der vielen ungeklärten Todesfälle auf den WM-Baustellen im kleinen Wüstenemirat als symbolstarke Gleichzeitigkeit gut finden. Oder verwerflich, weil statt Ruhe Remmidemmi regiert. Denn obendrein wird das Endspiel am vierten Adventsonntag angepfiffen, was vor einem abendländischen Referenzrahmen eine gewisse Doppeldeutigkeit besitzt. Während in den Kirchen an diesem Tag lautstark „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“gesungen wird, könnten die Stürmer der Finalisten zwar mit einstimmen, die Tormänner werden sich aber wohl genau das Gegenteil wünschen.
Man trifft sich also – der Fußball und die Kirche. Auch in den kommenden Wochen werden wieder viele Parallelitäten zwischen Sport und Glauben sichtbar werden. So spricht man vom „heilige Rasen“in Fußballkathedralen, von Fußballgöttern und Kabinenpredigten, Maradona half einst bei einem Tor in einem WM-Spiel die „Hand Gottes“, Superstars werden wie Götzen angebetet, große Vereine haben eigene Kapellen in ihren Stadien: „Wie das alles zelebriert wird – das sind schon säkulare Liturgien“, befand der steirische Diözesanbischof Wilhelm Krautwaschl einst in einem Interview mit dieser Zeitung: „Vom Einzug über die Mitnahme des Balles bis zum Pokal, der hochgehalten, herumgereicht und abgebusserlt wird. Das sind alles Riten im besten Sinn, die einem das Gefühl geben, dazuzugehören und sich nicht erklären zu müssen.“
Kultische Gesänge, Tausende Anhänger, die sich offen bekennen, das Aufgehen des Einzelnen in der Menge von Begeisterten zugunsten eines höheren Ziels, aufwendige Choreografien in vollen Stadien – da könnten Kirchen, die an Mitgliederschwund leiden, schon neidisch werden. Aber ist es richtig und rechtens, den Fußball deshalb gleich als Religion zu bezeichnen? Jein.
Es gibt religiöse Komponenten, aber zum Glauben fehle dem Fußball das Anbieten von Lösungen oder gar einer Erlösung, sagen die einen. Andere, wie der deut
Philosoph, Sport- und Kulturhistoriker Markwart Herzog, verweisen auf existierende Religionen, die auf diese metaphysische Ebene verzichten und ohne Gott und Götter auskommen und auf innerweltliche Transzendenz verweisen. Religion werde so zur Seinsordnung, „die Orientierung und Heimat gibt, die Gemeinschaft stiftet und den Einzelnen einbettet in ein größeres Ganzes, das ihm Sinn und Bedeutung gibt“. Folgt man dieser Definition, reicht Fußball schon sehr nahe ans Religiöse.
Im Fall der aktuellen WM im Wüstenstaat werden diese Fragen vor einer völlig neuen Kulisse verhandelt.
Denn das kleine Emirat am Persischen Golf – nicht größer als Oberösterreich – ist das erste arabische und erste muslimische Land, in dem eine Fußballweltmeisterschaft stattfindet. Der dort gelebte sunnitische Wahhabismus gilt als eine orthodoxe, sehr konservative Auslegung des Islam. „Sie folgt einer exklusivistischen Prägung nach dem Motto ,Wer nicht für uns ist, ist gegen uns‘“, erklärt Islamwissenschaftler Sebastian Sons. Die Religionsausübung folge zwar nicht so dogmatischen und absolutistischen Regeln wie in Saudi-Arabien und sei auch nicht rückwärtsgewandt, es gebe aber trotz eines hohen Grads an Pragmasche
tismus noch starre patriarchale Strukturen und einigen Reformbedarf.
Die Kritik ist bekannt: Katar sei eine Autokratie, in der neben dem Ball auch die Menschenrechte mit den Füßen getreten werden. So wird Staatsoberhaupt Emir Tamim bin Hamad Al Thani Nähe zur Muslimbruderschaft nachgesagt. Er möchte trotz einer langsamen Liberalisierung des Landes die nationale Identität auf Grundlage traditioneller islamischer Werte bewahren. Aussagen wie zuletzt vom offiziellen WMBotschafter, der Homosexualität als „geistigen Schaden“diffamiert hat, bestätigen Kritiker. Das katholische Hilfswerk Missio verweist zudem auf die unzureichende rechtliche Absicherung von Gastarbeiterinnen, die zu Tausenden als Billigarbeitskräfte in Haushalten arbeiten. Wenn sie als Opfer eine Vergewaltigung zur Anzeige bringen, können sie zu umgehend Angeklagten wegen unter Strafe stehendem, außerehelichem Geschlechtsverkehr werden.
In diesem Spannungsfeld wird auch Fußball zelebriert. Es gibt in der islamischen
Welt Kleriker, die den organisierten Fußball beziehungsweise damit verbundene Handlungen ablehnen – etwa, weil Profispieler übermäßige Gehälter kassieren. Umgekehrt investiert gerade die katarische Führungselite Milliarden in den Fußball, vom Sponsoring des „staatseigenen“Fußballklubs Paris Saint-Germain bis aktuell zur Ausrichtung der WM. Aber nicht nur Katar, auch Abu Dhabi, Dubai und Saudi-Arabien investieren meist über Staatsfonds Unsummen in den Fußball.
hochgeföhnte Kommerzialisierung eines Großereignisses wie die Weltmeisterschaft kritisiert auch Johannes Lackner, Sport- und Olympiakaplan der römischkatholischen Kirche Österreichs: „Durch die ungehörige Vermengung des Sports mit politischen Interessen erleiden die Sportler wie auch der Sport generell großen Schaden“, befand er zuletzt.
Was also tun als Fan: radikaler Boykott? Eingeschränkter Konsum? Zumindest schlechtes Gewissen, wenn man sich die Spiele im Fernsehen ansieht? Was bleibt, sind die Stimmen, die sagen, diese WM in Katar hätte nie stattfinden dürfen. Der Vorwurf wiegt schwer und ist wohl so berechtigt wie zeitlos. Man kennt ihn von der WM in Russland 2018 – vier Jahre nach Besetzung der zur Ukraine gehörenden Krim durch die russische Armee. Man kennt ihn auch von der WM 1978 in Argentinien, wo zwei Jahre davor das Militär die Macht übernommen und Tausende Oppositionelle umgebracht hatte. Vielleicht hätte ein Boykott etwas bewirkt.
Sicher aber ist, dass wenn dort nicht angepfiffen worden wäre, Österreich um einen seiner sporthistorisch wichtigsten Momente umgefallen wäre – den 3:2-Sieg gegen Deutschland in Córdoba.