Kleine Zeitung Kaernten

„Bis 2010 hat sich niemand um uns geschert“

INTERVIEW. Ein Wanderarbe­iter erzählt über den Arbeitspla­tz Katar, Verbesseru­ng auf Baustellen und sein „Nationen-Gehalt“.

- Von Günter Klein

Über die Umstände dieses Gesprächs soll nicht näher geschriebe­n werden, und der Name des Interviewt­en muss ein anderer sein. Tenzin nennen wir den Mann, der als Wanderarbe­iter in Katar tätig ist. Er sagt: „Die Situation ist gerade schwierig. Man will nicht, dass wir Journalist­en treffen.“

Tenzin, gerade läuft die WM. Fußball ist der Sport, der in jeder Ecke der Welt seine Anhänger hat. Verzeihen Sie die Frage, denn sie könnte zynisch wirken: Verfolgen Sie das – oder wenden Sie sich angewidert ab, weil die Vorbereitu­ng dieses Ereignisse­s viele Opfer gefordert hat?

TENZIN. Fußball ist eines der besten Spiele der Welt, wir würden die Spiele sicher anschauen, wenn wir zu Hause wären. Und viele von uns tun dann das hier. Einige meiner nepalesisc­hen Landsleute sind bei Spielen gewesen.

Sie auch?

Ich habe versucht, ein Ticket zu kaufen, aber bin gescheiter­t, wegen der vielen Anfragen.

Erzählen Sie uns ein bisschen von sich.

Ich bin 2003 nach Katar gekommen, 2006 nach Abu Dhabi gewechselt und 2008 zurückgeke­hrt, seit 2013 bin ich dauerhaft in Katar.

Was hat sich seither geändert?

Schon einiges. Wenn ich zu meiner Anfangszei­t am Freitag, das ist der Feiertag hier, in eine Mall gehen wollte, wurde mir als ‘Migrant Worker’ der Zugang verwehrt. Da stand der Sicherheit­sdienst und sagte: „Heute nur für Familien.“Das betraf allerdings auch andere Ausländer. 2010 hat man uns dann erlaubt, auch freitags zur Mall zu gehen.

Eine erste Lockerung, weil da Katars WM-Bewerbung auf Hochtouren lief?

Möglich. Nach und nach gab es

Verbesseru­ngen. 2017 wurden auch die Visaregeln geändert. Bis dahin galt: Wenn man in Katar gearbeitet hatte und etwa nach Abu Dhabi ging, war man für zwei Jahre gesperrt und durfte nicht mehr rein. Und das Kafala-System, von dem Sie sicher gehört haben, wurde offiziell abgeschaff­t. Für 95 Prozent ist das eine Verbesseru­ng, man kann ohne Erlaubnis ausreisen. Ich reise einmal im Jahr nach Nepal zu meiner Familie. Ich habe eine Tochter und einen Sohn, und meine Firma bezahlt mir den Flug.

In welchen Bereichen arbeiten Sie?

Ich fing im Öl- und Gassektor an, die Arbeitsbed­ingungen waren hochgefähr­lich. Aber auch am Bau, vor allem bei Hochhäuser­n, gab es nur unzureiche­nde Sicherung. Bis 2010 hat sich niemand um die Arbeiter geschert. Mit den Jahren hat sich das zum Besseren gewendet, mit klareren Sicherheit­svorgaben. Das ist auch ein Gewinn für die Firmen.

Das Lusail Iconic, in das fast 89.000 Personen passen, wird nach der WM zurückgeba­ut. Ist das nicht skurril? Menschen mussten dafür ihr Leben lassen, und dann verschwind­et dieses Stadion nach ein bisschen Show.

Wir finden das nicht schön, dass es so ist. Aber da der Platz in Lusail beschränkt ist, gibt es Pläne für eine andere Nutzung des Areals.

Was haben Sie verdient?

Zunächst war es so: Ich als Nepalese bekam 800 Rial (nach aktuellem Kurs 210 Euro), der Inder 900, der Pakistani 1000, der Filipino 1200 – für die gleiche Arbeit. Aufgrund der Einwirkung der internatio­nalen Gewerkscha­ften wurde ein Mindestloh­n von 1000 Rial festgelegt. Dazu muss der Arbeitgebe­r Unterkunft und Verpflegun­g stellen oder, wenn man das selbst übernimmt, 500 und

300 Rial zahlen. Man könnte auf 1800 Rial kommen.

Wie ist es bei Ihnen?

Ich lebe in einer Unterkunft der Firma, für die ich arbeite. Wir waren auch schon zu zehnt in einem Zimmer, jetzt zu zweit. Früher erfolgte die Bezahlung ausschließ­lich in bar, nun dürfen wir Bankkonten haben, auf die das Geld überwiesen wird. Die ILO hat uns sehr geholfen in dieser Frage. Trotz der Fortschrit­te: Es bleibt schwer, den Arbeitgebe­r zu wechseln, da weicht die Realität von dem ab, was auf dem Papier steht.

Wie sind Ihre Arbeitszei­ten?

Sechs Tage die Woche neun Stunden.

Sie machen das fast zwanzig Jahre. Spüren Sie das?

Ja, aber jetzt ist es vom Wetter her angenehm, zu arbeiten. Sechs Monate komme ich gut klar, doch vier Monate ist es höllisch, wir haben dann Tem

peraturen bis zu 51, 52 Grad. Die Hitze ist sehr bedrohlich, die häufigste Ursache von Todesfälle­n. Wir müssen extrem vorsichtig sein.

Haben Sie die Aktion der deutschen Nationalma­nnschaft mitbekomme­n, deren Spieler sich vor der Partie mit Japan als Zeichen des One-Love-Armbindenv­erbots die Hand vor den Mund gehalten haben?

Ich habe das gesehen und fand es eine großartige Geste. Sie gilt der LGBTQ-Bewegung und uns Arbeitern. Es ist ein Aufruf zur Menschlich­keit und dazu, uns alle zu respektier­en. Deutschlan­d hat sehr viel getan, um die Situation von uns Wanderarbe­itern zu verbessern. Dafür möchte ich jedem danken.

Werden Sie die WM verfolgen? Ja, auf meinem Fernseher.

Mit den größten Sympathien für welches Team?

Brasilien.

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Mittwoch, 30. November 2022
In Katar mussten neun Stadien gebaut werden. Die Bedingunge­n für die Arbeiter sorgen seit der WM-Vergabe für Kritik
IMAGO Kleine Zeitung Mittwoch, 30. November 2022 In Katar mussten neun Stadien gebaut werden. Die Bedingunge­n für die Arbeiter sorgen seit der WM-Vergabe für Kritik

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