Alles, was stabil zu sein schien, fiel zusammen
Besuch in Charkiw – in meinem Viertel, in dem kein Gebäude heil geblieben ist. Zwischen unerträglicher Stille und neuem Leben.
Ich habe die meiste Zeit meines Lebens in Nordsaltivka, einem Stadtteil von Charkiw, verbracht. Ich ging dort in den Kindergarten und in die Schule. Es war ein gänzlich autonomer Stadtteil, der alles für ein angenehmes Leben bereithielt. Früher lebten in Nordsaltivka 600.000 Menschen, und das Viertel entwickelte sich schnell: Neue Wohnkomplexe und Supermärkte wurden errichtet; die Infrastruktur erweitert und verbessert. Nordsaltivka begann sich allmählich von seiner sowjetischen Vergangenheit zu befreien, und es schien, als würde sich alles langsam zum Besseren wenden und uns schon bald ein schönes und komfortables Leben erwarten. Bis Russland beschlossen hat, uns zu „retten“.
Jetzt ist kein einziges Gebäude mehr heil. Mancherorts sind nur zerbrochene Fenster zu sehen, anderenorts ein Loch in einer Wand von einer nicht explodierten Granate, und irgendwo anders offenbart sich der Blick auf freiliegendes Wohnungsinventar, das mit den ganzen verbrannten Lumpen herausgerissenen Eingeweiden gleicht.
Wenn man durch die leeren Straßen geht, wird man das Gefühl nicht los, dass man beobachtet wird, denn die Gebäude mit ihren schwarzverbrannten Fenstern scheinen die Vorübergehenden zu beobachten.
Sie beobachten aufmerksam und scheinen verhindern zu wollen, dass der Feind unvermittelt wieder in Charkiw eindas dringt. Währenddessen geben die entstellten Körper dieser Gebäude ein Stöhnen von sich und blähen sich ob all der unerträglichen Fäulnis auf, aber nichtsdestotrotz stehen sie noch und scheinen auf ihre Instandsetzung und die Rückkehr jener Menschen zu warten, denen sie früher eine Wohnstätte boten.
Angestellte der kommunalen Dienste huschen durch die gefrorenen, menschenleeren Straßen auf der Suche nach Dingen, die sie reparieren oder retten könnten. Ich nähere mich einem von ihnen: Guten Tag. Er antwortet mir in gebrochenem Ukrainisch. Guten … – Renovieren Sie dieses Gebäude?– Ja, sagt er ruhig und stolz. Dieses hier auch? In ihm ist nichts heil geblieben! – Ja, sogar dieses. Wir werden alles Stück für Stück wieder aufbauen; alles Stück für Stück ... nicht alles auf einmal.
Ich gehe weiter. Letzte Nacht ist der erste Schnee gefallen. Ein schwarzer Ast biegt sich unter dem schweren, matschigen Schnee. Ich komme am fast vollständig zerstörten Gebäude vorbei, in dem früher meine Lehrerin wohnte. Ich erinnere mich, wie sie uns zu sich einlud, den Tisch deckte und wir uns bei einer Tasse Tee über das Schulleben unterhielten. All das ist so lange her und scheint sich in einem anderen Leben zugetragen zu haben. Und dieses andere Leben ist jetzt schwarzen Löchern in den Wänden gewichen. Man sieht eine verbrannte Badewanne und ein vom Feuer verzehrtes Bild. Das Leben aller Menschen wurde auf den Kopf gestellt und ähnelt nun dem einer Leiche, die man in einem Leichenschauhaus seziert, um die Todesursache zu ermitteln. Wir aber kennen den Todesgrund – es war eine von den Russen abgefeuerte Rakete. Sie tötete und riss Leben in Stücke. Neben dem Gebäude steht eine ältere Frau. Ich grüße sie und frage: Wohnen Sie hier? – Ja, ich habe hier gewohnt, jetzt komme ich her, um mich zu waschen. – Hierher in dieses Haus, in dem nichts heil geblieben ist? – Ja, hierher.
Ich kann mir nicht vorstellen, wie es möglich ist, in einem halbzerstörten Haus zu leben, durch eine Explosion bis zur Unkenntlichkeit entstellt ist und kurz vor dem Einsturz zu stehen scheint.
Ich überquere die kleine Brücke, in der sich die vordersten Gebäudezeilen des Stadtviertels befinden, die bei der Verteidigung behilflich waren, indem sie als Schutzschilde dienten.
Zu sagen, dass dieser ganze Anblick einem postapokalyptischen Szenario gleicht, wäre eine Untertreibung. Eine der Wände eines Gebäudes hängt nur noch an einer Armatur und droht herunterzufallen; sie knarrt bei jedem Windstoß und heult vor Schmerz. Es war die Wand eines Zimmers. Die Menschen haben Bilder und Regale an ihr befestigt. Sie schien so
zuverlässig und stabil zu sein, aber jetzt hängt sie an einem einzigen eisernen Faden wie ein zitterndes Herbstblatt an seinem welken Stiel. Alles, was monolithisch und stabil zu sein schien, fiel in sich zusammen.
Je näher man der ersten Gebäudezeile kommt, desto unerträglicher wird die Stille. Sie verdichtet sich und riecht penetrant nach Angst. Plötzlich taucht ein großer schwarzer Hund vor mir auf. Dem Leibhaftigen gleich schien er plötzlich dem Erdboden entstiegen zu sein, und jetzt steht er da, sieht mich an und beschnüffelt mich vorsichtig. Ich merke, dass er zittert, denn immerhin hätte hier sogar der Teufel Angst.
Ich gehe weiter in das Stadtviertel hinein und stürze mich in das Dickicht des Todes, der hier regiert und sich hier wohlfühlt. Und stumme Gebäude sind die Zeugen seines blutrünstigen Tanzes. Je weiter ich gehe, desto größer wird die Zerstörung, als hätte der Tod hier all seine Macht demonstriert und all seine Wut gezeigt. Mit großen Pranken schien er auf die Gebäude losgegangen zu sein und ganze Wohnungen herausgerissen zu haben – ganz so, wie vor langer Zeit Menschen, die ihrem Kriegsgott das Herz des Feindes als Opfer darbrachten. Der zerrissene Körper wurde den Geiern zum Ausweiden überlassen. Es gibt Hunderte von diesen ausgeweideten Hochhäusern, deren Innerstes nach außen ragt.
Aber der Tanz des Todes ist hier vorbei. Der Gott des Krieges ist in den Süden gezogen, wo er gegenwärtig wütet, während hier nun gespenstische Stille herrscht. In dieser Stille hört man hier und da das Klopfen eines Hammers, das Summen einer Bohrmaschine oder das Rascheln eines Besens. Die Menschen kehren in ihre entstellten Häuser zurück und glauben, dass sie ungeachtet der gewaltigen Verwüstungen alles wieder instand setzen können.
600.000 Menschen, die dieses Stadtviertel während der grausamen Regentschaft des Kriegsgottes verlassen mussten, erfüllen diese Geisterhäuser nun allmählich wieder mit dem Licht neuen Lebens. Ich setze mich in einen vorbeikommenden Bus und fahre in einen anderen Teil der Stadt, in dem alles intakt ist. Es scheint hier keinen Krieg gegeben zu haben, doch der schreckliche Geruch von Verbranntem bemächtigt sich meiner Sinne, sodass ich jetzt einem dieser entstellten Gebäude gleiche und darauf warte, dass der Krieg endet und das Licht des Lebens wieder zu leuchten beginnt.