Kleine Zeitung Kaernten

Alles, was stabil zu sein schien, fiel zusammen

Besuch in Charkiw – in meinem Viertel, in dem kein Gebäude heil geblieben ist. Zwischen unerträgli­cher Stille und neuem Leben.

- TAGEBUCH aus der Ukraine Die ukrainisch­e Fotografin Zhenya Laptii gibt Einblicke in die Lebensreal­ität ihres Landes.

Ich habe die meiste Zeit meines Lebens in Nordsaltiv­ka, einem Stadtteil von Charkiw, verbracht. Ich ging dort in den Kindergart­en und in die Schule. Es war ein gänzlich autonomer Stadtteil, der alles für ein angenehmes Leben bereithiel­t. Früher lebten in Nordsaltiv­ka 600.000 Menschen, und das Viertel entwickelt­e sich schnell: Neue Wohnkomple­xe und Supermärkt­e wurden errichtet; die Infrastruk­tur erweitert und verbessert. Nordsaltiv­ka begann sich allmählich von seiner sowjetisch­en Vergangenh­eit zu befreien, und es schien, als würde sich alles langsam zum Besseren wenden und uns schon bald ein schönes und komfortabl­es Leben erwarten. Bis Russland beschlosse­n hat, uns zu „retten“.

Jetzt ist kein einziges Gebäude mehr heil. Mancherort­s sind nur zerbrochen­e Fenster zu sehen, anderenort­s ein Loch in einer Wand von einer nicht explodiert­en Granate, und irgendwo anders offenbart sich der Blick auf freiliegen­des Wohnungsin­ventar, das mit den ganzen verbrannte­n Lumpen herausgeri­ssenen Eingeweide­n gleicht.

Wenn man durch die leeren Straßen geht, wird man das Gefühl nicht los, dass man beobachtet wird, denn die Gebäude mit ihren schwarzver­brannten Fenstern scheinen die Vorübergeh­enden zu beobachten.

Sie beobachten aufmerksam und scheinen verhindern zu wollen, dass der Feind unvermitte­lt wieder in Charkiw eindas dringt. Währenddes­sen geben die entstellte­n Körper dieser Gebäude ein Stöhnen von sich und blähen sich ob all der unerträgli­chen Fäulnis auf, aber nichtsdest­otrotz stehen sie noch und scheinen auf ihre Instandset­zung und die Rückkehr jener Menschen zu warten, denen sie früher eine Wohnstätte boten.

Angestellt­e der kommunalen Dienste huschen durch die gefrorenen, menschenle­eren Straßen auf der Suche nach Dingen, die sie reparieren oder retten könnten. Ich nähere mich einem von ihnen: Guten Tag. Er antwortet mir in gebrochene­m Ukrainisch. Guten … – Renovieren Sie dieses Gebäude?– Ja, sagt er ruhig und stolz. Dieses hier auch? In ihm ist nichts heil geblieben! – Ja, sogar dieses. Wir werden alles Stück für Stück wieder aufbauen; alles Stück für Stück ... nicht alles auf einmal.

Ich gehe weiter. Letzte Nacht ist der erste Schnee gefallen. Ein schwarzer Ast biegt sich unter dem schweren, matschigen Schnee. Ich komme am fast vollständi­g zerstörten Gebäude vorbei, in dem früher meine Lehrerin wohnte. Ich erinnere mich, wie sie uns zu sich einlud, den Tisch deckte und wir uns bei einer Tasse Tee über das Schulleben unterhielt­en. All das ist so lange her und scheint sich in einem anderen Leben zugetragen zu haben. Und dieses andere Leben ist jetzt schwarzen Löchern in den Wänden gewichen. Man sieht eine verbrannte Badewanne und ein vom Feuer verzehrtes Bild. Das Leben aller Menschen wurde auf den Kopf gestellt und ähnelt nun dem einer Leiche, die man in einem Leichensch­auhaus seziert, um die Todesursac­he zu ermitteln. Wir aber kennen den Todesgrund – es war eine von den Russen abgefeuert­e Rakete. Sie tötete und riss Leben in Stücke. Neben dem Gebäude steht eine ältere Frau. Ich grüße sie und frage: Wohnen Sie hier? – Ja, ich habe hier gewohnt, jetzt komme ich her, um mich zu waschen. – Hierher in dieses Haus, in dem nichts heil geblieben ist? – Ja, hierher.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie es möglich ist, in einem halbzerstö­rten Haus zu leben, durch eine Explosion bis zur Unkenntlic­hkeit entstellt ist und kurz vor dem Einsturz zu stehen scheint.

Ich überquere die kleine Brücke, in der sich die vordersten Gebäudezei­len des Stadtviert­els befinden, die bei der Verteidigu­ng behilflich waren, indem sie als Schutzschi­lde dienten.

Zu sagen, dass dieser ganze Anblick einem postapokal­yptischen Szenario gleicht, wäre eine Untertreib­ung. Eine der Wände eines Gebäudes hängt nur noch an einer Armatur und droht herunterzu­fallen; sie knarrt bei jedem Windstoß und heult vor Schmerz. Es war die Wand eines Zimmers. Die Menschen haben Bilder und Regale an ihr befestigt. Sie schien so

zuverlässi­g und stabil zu sein, aber jetzt hängt sie an einem einzigen eisernen Faden wie ein zitterndes Herbstblat­t an seinem welken Stiel. Alles, was monolithis­ch und stabil zu sein schien, fiel in sich zusammen.

Je näher man der ersten Gebäudezei­le kommt, desto unerträgli­cher wird die Stille. Sie verdichtet sich und riecht penetrant nach Angst. Plötzlich taucht ein großer schwarzer Hund vor mir auf. Dem Leibhaftig­en gleich schien er plötzlich dem Erdboden entstiegen zu sein, und jetzt steht er da, sieht mich an und beschnüffe­lt mich vorsichtig. Ich merke, dass er zittert, denn immerhin hätte hier sogar der Teufel Angst.

Ich gehe weiter in das Stadtviert­el hinein und stürze mich in das Dickicht des Todes, der hier regiert und sich hier wohlfühlt. Und stumme Gebäude sind die Zeugen seines blutrünsti­gen Tanzes. Je weiter ich gehe, desto größer wird die Zerstörung, als hätte der Tod hier all seine Macht demonstrie­rt und all seine Wut gezeigt. Mit großen Pranken schien er auf die Gebäude losgegange­n zu sein und ganze Wohnungen herausgeri­ssen zu haben – ganz so, wie vor langer Zeit Menschen, die ihrem Kriegsgott das Herz des Feindes als Opfer darbrachte­n. Der zerrissene Körper wurde den Geiern zum Ausweiden überlassen. Es gibt Hunderte von diesen ausgeweide­ten Hochhäuser­n, deren Innerstes nach außen ragt.

Aber der Tanz des Todes ist hier vorbei. Der Gott des Krieges ist in den Süden gezogen, wo er gegenwärti­g wütet, während hier nun gespenstis­che Stille herrscht. In dieser Stille hört man hier und da das Klopfen eines Hammers, das Summen einer Bohrmaschi­ne oder das Rascheln eines Besens. Die Menschen kehren in ihre entstellte­n Häuser zurück und glauben, dass sie ungeachtet der gewaltigen Verwüstung­en alles wieder instand setzen können.

600.000 Menschen, die dieses Stadtviert­el während der grausamen Regentscha­ft des Kriegsgott­es verlassen mussten, erfüllen diese Geisterhäu­ser nun allmählich wieder mit dem Licht neuen Lebens. Ich setze mich in einen vorbeikomm­enden Bus und fahre in einen anderen Teil der Stadt, in dem alles intakt ist. Es scheint hier keinen Krieg gegeben zu haben, doch der schrecklic­he Geruch von Verbrannte­m bemächtigt sich meiner Sinne, sodass ich jetzt einem dieser entstellte­n Gebäude gleiche und darauf warte, dass der Krieg endet und das Licht des Lebens wieder zu leuchten beginnt.

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LAPTII Die Ruinen einer zerstörten Stadt

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